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„Korrekturunwilligkeiten“ überwinden

■ In der 'Wahrheit‘, der Parteizeitung der Westberliner Kommunisten, wird erstmals Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt: Wie verhalten wir uns, wenn positive Werte im realen Sozialismus nicht eingelöst werden? / Forderung nach Rehabilitierung von Stalin-Opfern

Unter der Überschrift „Stimmungsmache gegen die DDR zum Jahrestag des Mauerbaus“ ist die SEW-Parteizeitung 'Die Wahrheit‘ in ihrer gestrigen Ausgabe auf Seite zwei noch ganz disziplinierter Musterknabe der SED. Doch auf der gegenüberliegenden Seite macht man sich ganz andere Gedanken: Auf nahezu einer halben Seite wird erstmals deutliche Kritik an der SEW geübt. „Warum mißtraut der Staat der Arbeiterklasse?

Forciert die Politik der SED nicht ein Duckmäusertum?“ wird dort mit bislang unbekannter Schärfe gefragt. Besondere Bedeutung erhält der Bericht, weil er sich auf die Arbeit der offiziellen SEW-Kommission „West-Berlin und das Jahr 2000“ bezieht. Diese auf dem letzten Parteitag der SEW eingerichtete Kommission soll ein neues Parteiprogramm entwickeln. Erste Entwürfe wurden in den vergangenen Wochen auf sieben öffentlichen Diskussionsveranstaltungen den Parteimitgliedern vorgestellt. Verabschiedet werden soll der Entwurf auf dem Parteitag im Mai 1990.

„Der Aufbau des Sozialismus ist mit Fehlern, Widersprüchen, Irrwegen verbunden. Ideale sind oft nicht verwirklicht. Wie verhalten wir uns, wenn positive Werte im realen Sozialismus nicht eingelöst werden, wie zum Beispiel bei Korruption und mangelnder Demokratieentwicklung?“ heißt es in dem Artikel. Eine Spalte weiter wird ein ungenanntes SEW-Mitglied mit der Bemerkung zitiert: „Der reale Sozialismus steckt in der Krise, dem müssen wir uns stellen. Es muß was verändert werden und nicht der Fortschritt beschworen werden. Wir kommen doch nicht weiter, wenn wir vom Ideal aus die Wirklichkeit betrachten, sondern wir müssen erst die Wirklichkeit gestalten, dann können wir uns auch den Idealen zuwenden.“

Auch angesichts einer nicht bewältigten Geschichte wird unter der Zwischenüberschrift „Stalinismus - wesenseigen oder Deformation?“ Kritik an den alten Männern der DDR geübt. So wird stellvertretend für andere Parteiführer gefragt, ob nicht der DDR-Gründervater Pieck den Widerstand gegen Stalin hätte organisieren müssen. Die Ohren müssen den Ostberliner Genossen auch bei der Feststellung klingeln, daß „Die Verbrechen in der Stalinzeit (...) nicht auf einzelne handelnde Personen zurückzuführen (sind), sondern auf tiefe gesellschaftliche Ursachen“. „Entwickeln wir die Kultur, uns wechselseitig auf Probleme aufmerksam zu machen. Überwinden wir Korrekturunwilligkeiten und heben das Niveau zwischen den kommunistischen Parteien, um unsere Positionen weiterzubringen“, heißt es abschließend in dem Beitrag.

Mit diesem Hinweis wird offenbar Bezug genommen auf Unstimmigkeiten der letzten Wochen zwischen SED und SEW. Die DDR-Staatspartei hatte unter anderem die Westberliner Genossen zusammengestaucht, als diese Kritik an der Niederschlagung der Demokratiebewegung in China äußerte. Die DDR hatte dagegen die chinesische Führung nachdrücklich unterstützt. Erst nach dem SED-Rüffel schwenkten die Westberliner Sozialisten wieder auf DDR-Linie ein.

Es müsse doch die Frage erlaubt sein, ob die Vorstellungen und Träume im realen Sozialismus realisiert wurden oder nicht, verteidigt 'Wahrheit'-Chefredakteur Klaus-Dieter Heiser die Berichterstattung. Der Beitrag spiegele nur die „lebendige Diskussion“ in der Partei wider, von der man „nichts verschweige“.

Bereits am Wochenende hatte das SEW-Blatt ein anderes Konfliktfeld angerissen. In einem fast zweiseitigen Beitrag zum hundertsten Geburtstag des KPD-Verlegers Willi Münzenberg wurde dessen vollständige Rehabilitierung gefordert. Münzenberg, der in der Weimarer Republik im Auftrag der KPD ein Presse-Imperium aufbaute, war später von Stalin aus der Partei verstoßen worden. Nachdem der Lenin -Freund Münzenberg sich weigerte, zu Tribunal und voraussichtlicher Ermordung nach Moskau zu kommen, wurde er höchstwahrscheinlich von Stalins Häschern in Frankreich ermordet.

Die 'Wahrheit‘ verweist nun darauf, daß Münzenberg in der DDR immer noch eine Unperson ist. In der zwölfbändigen Ausgabe Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung werde sein Name in den Bänden sieben bis zehn hauptsächlich nur in der Aufzählung mit anderen Funktionären der KPD genannt, schreibt der 'Wahrheit'-Autor: „Dann taucht Münzenbergs Name überhaupt nicht mehr auf als hätte es ihn nie gegeben. Das 18bändige Meyers Neues Lexikon (VEB Bibliographisches Leipzig 1978) verzeichnet seinen Namen ebensowenig wie das Standardwerk Deutsche Geschichte (VEB deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1968). In der Thälmann -Biographie (Dietz-Verlag, Berlin 1980) wird in Band zwei Münzenberg nur im negativen Sinn genannt.“

Die Zeitung wolle zu einer „produktiven Auseindersetzung“ beitragen und einen „Punkt setzen in der Debatte“ um Münzenberg, sagt Chefredakteur Heiser. Der Widerspruch zur offiziellen Meinung der DDR über den KPDler Münzenberg, der sich 1939 mit einer heftigen Kritik am „Verräter“ Stalin von seiner Partei verabschiedete, „entspricht nur unserer Lebendigkeit“. Einen Konflikt sieht Heiser nicht - auch nicht in der Münzenberg-Berichterstattung im DDR-Parteiorgan 'Neues Deutschland‘: „mit teils anderen Ergebnissen als bei uns“, wie Heiser zugesteht.

Gerd Nowakowski

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