: Bei mir hat das nie aufgehört
■ Ein Gespräch mit Ken Russell, dessen „Biß der Schlangenfrau“ Ende des Monats in die bundesdeutschen Kinos kommt, über Verrückte, Katholiken, Geld und Tapeten
Gunter Göckenjan
Sein erster Filmversuch hieß „Peepshow“, sein letzter, bevor er Profi wurde, „Lourdes“. Die beiden bezeichnen auch schon die Marksteine seines gesamten Filmschaffens: Erotik und Religion. Seine wichtigsten Filme: „Liebende Frauen“, „Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn“, „Mahler“, „Lisztomania“, „Der Höllentrip“, „Gothic“. Am 31.August startet sein vorletzter Film: „Der Biß der Schlangenfrau“ („The Lair of the White Worme“).
In Ken-Russell-Filmen geht es immer um Obsessionen und Maßlosigkeit. Wenn jemand in einem offenen Auto mit einer Gruppe nackter Mädchen zur Premiere fährt, könnte das Ken Russell sein. Im englischen Fernsehen sieht man ihn häufig mit Champagnerglas in der Hand. In seinem handtuchschmalen Stadthaus im vornehmen Londoner Westend gab's nur Tee. Russell saß auch nicht, wie erwartet, mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem roten Kußmundsofa. Rot war das Sofa immerhin. Er trug eine blaue Strickjacke, blaue Cordhose und rote Strümpfe, Hausschuhe. Zwei Tage später, zur Londoner Premiere seines letzten Films, erschien er in der gleichen Kombination, diesmal mit Schuhen.
Gunter Göckenjan: Ihre Filme sind immer voller seltsamer Menschen.
Ken Russell: Oh, jeder ist seltsam. Manche haben nur mehr Publizität als andere. Wir sind doch alle auf irgendeine Weise verrückt, das ist es schließlich, was uns zu Individuen macht. Unsere persönliche Verrücktheit ist unsere individuelle Wahrnehmung der Welt. Normale Leute machen mir Angst.
Ihre eigene Geschichte ist ja auch kein Durchschnittsleben. Sie sind zum Beispiel zum Katholizismus konvertiert. Welche Bedeutung hatte das für Ihre Karriere?
Ich weiß nicht, schließlich kann man nicht sagen, wie es gelaufen wäre, wenn man etwas nicht gemacht hätte. Was ich weiß: Bis zu meinem 28.Lebensjahr, damals bin ich zum Katholizismus übergetreten, konnte ich keine Richtung in meinem Leben finden. Meine verstreuten Aktivitäten hatten vage mit Film zu tun, und ich wußte auch, daß ich Filme machen wollte. Ich war damals Tänzer, Schauspieler und Fotojournalist, aber es fehlte die zielstrebige Energie.
Und das hat sich durch den Wechsel der Religion geändert?
Ja, ich konvertierte, und sofort kam mein Leben in Gang. Obwohl ich das Gefühl hatte, daß sich nichts besonderes verändert hatte, unternahm ich instinktiv die richtigen Schritte. Ich war voller Sentimentalität und Sehnsucht, ich bin das immer noch, aber vor dieser Veränderung war das extrem. Ich wurde... nein, nicht intelektuell, das bin ich bestimmt nicht, aber geradliniger.
Was hat Sie überhaupt auf die Idee gebracht, Katholik zu werden?
Ich habe damals einen Amateurfilm gemacht, in dem die Leute aus dem Haus, in dem ich lebte, mitspielten. Einer von denen, ein Steuerbeamter, war gerade zum Katholizismus konvertiert und erzählte mir von den religiösen Dingen. Für mich klang das wie ein Science-fiction-Drehbuch. Ich sah Space-Brüder und -Schwestern, die Space-Mutter und die Kathedrale, die wie eine Weltraumstation vom Boden abhob.
Aber wie konnte dieser Fantasy-Film Ihr Leben verändern?
Die Religion hat Regeln. Ich hatte vorher keine Regeln in meinem Leben. Mein Vater gab mir genug Geld für mein Leben zwischen Kunstschule und Art Gallery. Ich trieb so dahin. Dann gab es plötzlich Regeln. Das Wichtige war nicht das Religiöse, sondern die Kanalisierung.
Für mich ist Religion nur Einengung.
Ja, dahin kam ich dann auch. Ich merkte, daß ich das Ideal nicht leben konnte, und so habe ich mir gesagt, das ist etwas für Heilige, ich bin aber keiner. Ich war schon sechs Jahre Katholik, als ich den Lake District entdeckte, wo ich heute lebe. Das brachte mich der Natur nahe und dem Pantheismus. Da bin ich heute noch.
Pantheismus?
Ja, das ist die Verehrung der Natur.
In „Der Biß der Schlangenfrau“ gibt es eine Menge Natur als Kulisse.
Man benutzt eben, was einen fasziniert. Ich hatte dort, im Lake District, meine Vorstellung entwickelt, und alles basiert auf Orten und Leuten, die ich dort kenne. Aber wir hatten nicht genug Geld, um da zu drehen. Weil es in der Gegend soviel regnet, hätten wir viermal soviel Zeit gebraucht. Also haben wir es in der Nähe von London gemacht.
Die Höhle ist doch sicher im Studio gebaut.
Um Himmels willen, nein, im Studio hätte das alleine drei Millionen gekostet. Erstaunlicherweise kann man in England Filmersatz für jede gewünschte Landschaft finden. Wir fanden in der Nähe Londons Landschaften, die mehr nach Lake District aussahen als dieser selbst. Mit dem zusätzlichen Vorteil, daß das Wetter besser war.
Warum haben Sie sich für diese Horrorgeschichte interessiert?
Ich dachte mir, machen wir doch mal einen netten, englischen Horrorfilm. Es ist natürlich ähnlich wie Dracula. Statt Fledermäusen sind es Schlangen, es ist kein Mann, sondern eine Frau. Was mir an Der Kuß der Spinnenfrau gefällt, ist das Lebendige der Geschichte. All das mit den Schlangen und den römischen Münzen gibt es heute noch. Und zum Beispiel das Monster von Loch Ness, das gibt es wirklich. Mein Kameramann hat es einmal gesehen.
Und es fotografiert?
Nein, er hatte keinen Film in der Kamera. Als er ihn eingelegt hatte, war es wieder untergetaucht.
„Salomes letzter Tanz“ ist ja auch so eine Geschichte aus alter Zeit, auch ein Monster in gewisser Weise. Dieser Film ist wohl das einzige Theaterstück, das sie verfilmt haben. Warum Theater?
Ich sah die Inszenierung des Stücks von Lindsay Kemp, die mir sehr gefiel. Damals schloß ich eine Wette ab, daß ich den Stoff mit einer halben Million Pfund verfilmen könnte. Nach acht Jahren traf ich den Freund wieder, mit dem ich die Wette abgeschlossen hatte, und er gab mir das Geld. Natürlich hat sich der Preis in der Zwischenzeit verdoppelt. Wir wollten also versuchen, ob man so etwas überhaupt machen kann für eine Million. Es ging, mit drei Wochen Dreharbeiten und zwei Monaten Editing.
Was interessiert Sie an dieser Herausforderung?
Ich mag den Zwang, innerhalb bestimmter Grenzen zu arbeiten, weil man da mehr als üblich auf seine Erfindungsgabe und Vorstellungskraft angewiesen ist.
Ihre Filme wirken aber nie besonders sparsam. Haben Sie nicht doch öfter genug Geld, mehr, als Sie zugeben?
Vestron waren sehr gut zu mir. Sie gaben mir Geld, um Salome zu machen. Zwei Millionen für den Biß der Schlangenfrau und dreieinhalb für Rainbow (nach D.H. Lawrence, erscheint im März 1990; d.Red.). Aber sie leben vom Videomarkt, und sie wollen ein Produkt. Also fragen sie den Salesmanager: Wie viele Videos können voraussichtlich verkauft werden? Wenn er sagt: 50.000, dann kriegst du zwei Millionen, sagt er 60.000, dann gibt's zweieinhalb.
Hatten Sie auch schon mal genug Geld?
Für Der Höllentrip, das war das einzige Mal. Damals sprach niemand mit mir über das Budget. Zusammen mit dem Produktionsdesigner arbeitete ich meine Halluzinationen aus, und dann machten wir es genau so, egal was es kostete. Das Ganze war nicht extravagant teuer, wie bei Spielberg, aber man mußte der Phantasie keine Zügel anlegen.
Also doch: Geld ist für den Regisseur Voraussetzung für die Realisierung der Phantasie?
Die Bilder, die du im Kopf hast, interessieren keinen, wenn sie zu teuer sind, um sie auf die Leinwand zu bringen. Weil Bilder Geld kosten, muß man Vorstellungen eben oft beschneiden.
Trotzdem schätzen Sie die Herausforderung der Begrenzung?
Ohne Geld zu arbeiten lehrt, erfinderisch zu sein, und häufig fällt durch diese Erfindung ein neues Licht auf ein altes Thema.
Das Selbstverständnis des Experimentalfilmers.
Ich betrachte jeden Film als Experiment. Einige hauen hin, einige nicht. Man muß es ausprobieren.
Woher kommt diese Liebe zum Experiment?
Als ich noch jung war, habe ich zehn Jahre für ein Kunstprogramm der BBC gerarbeitet. Diese Arbeit war die beste Filmschule, die man haben konnte. Ich hatte dort die Möglichkeit, mit meinem ganzen Enthusiasmus zu arbeiten: Ich wollte romantische und ausdrucksstarke Filme über meine persönlichen Obsessionen machen. Über Tanz und klassische Musik. Bei der BBC gab man mir Gelegenheit, das zu realisieren, aber ich mußte einer Million Leute etwas mitteilen, wovon sie gar nichts wissen wollten. Hätte man die Sendung wie üblich angesagt - Und nun ein Film über den französischen Expressionisten Claude Debussy“ -, hätten die alle gleich abgeschaltet. Statt dessen begann ich mit blonden Mädchen in engen T-Shirts... und der Typ, der gerade den Quatsch über den französischen Freak abschalten wollte, bleibt erst mal dabei.
Sie haben auch Filme gemacht über Tschaikowsky und Mahler. Lieben Sie Musik?
Musik ist für mich wie eine Tapete. Wenn ich arbeite, höre ich nur Musik, die ich gut kenne, sie hält den Autolärm draußen von mir ab. Sie hilft, eine Inselsituation zu schaffen, die den Geist anregt.
Als ich kam, hörten Sie gerade Tschaikowsky. Gehört seine Musik zu Ihren Lieblingstapeten?
Nein, nein. Heute morgen suchte ich eine Platte, die mich nicht ablenken würde, und da fiel mir diese in die Hände. Ich habe sie vor 20 Jahren gekauft, aber dann lange nicht mehr gehört. Das ist wie ein alter Freund, der mal wieder vorbeikommt.
Sie haben Opern inszeniert und auch Ihre Filme haben einen opernhaften Manierismus...
...und auch einen Rhythmus. Meine Opern sind ziemlich filmisch, und meine Filme sind opernhaft. Deshalb ist es für mich leicht, von einem zum anderen zu wechseln. Der Unterschied? Bei der Oper hast du den fertigen Soundtrack und mußt dann der Musik die Bilder anmessen, und beim Film ist es umgekehrt. Ich brauche viel Zeit für die Bewegungsabläufe, die Choreographie. Meine Filme sind Ballette. Ich finde, daß Bewegungen und Musik sehr viel mehr ausdrücken, sehr viel verständlicher sind für ein internationales Publikum als Wörter.
Wie kam eigentlich Ihr Interesse am Kino zustande?
Als Junge ging ich jeden Tag ins Kino. Meine Mutter nahm mich mit. Wir sahen allerdings fast nur amerikanische Filme, sie mochte die britischen Filme nicht. Später entdeckte ich für mich das Kino des deutschen Expressionismus. Auf dieser Voraussetzung erschuf ich meine eigene Phantasie. Das machen die meisten Kinder so, nur bei mir hat das nie aufgehört.
Ihre eigenen Kinder spielen ja auch häufiger in Ihren Filmen mit...
...wenn immer es möglich ist. Ich habe zwei kleine Kinder und eine Menge erwachsener.
Ist das Erziehung zur Kreativität?
Ich finde es einfach zu langweilig mit Kindern zu spielen. Wenn du nicht machst, was sie wollen, fangen sie sofort an zu heulen. Einen Film zu machen ist aber auch ein Spiel. Sogar der Dreieinhalbjährige hat das ganz schnell begriffen. Bestimmte Szenen hat er allerdings nicht machen wollen, er hat geheult und geschrien, das habe ich dann benutzt. Das ist ganz lustig, weil du nie weißt, was sie tun werden.
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