Zur neuen Kleist-Ausgabe

■ Jürgen Berger sprach mit den Herausgebern Roland Reuß und Peter Staengle

Als letztes Jahr im Frankfurter Stroemfeld-/Roter-Stern -Verlag der erste Band der „Kritischen Berliner Kleist -Ausgabe“ erschien, bahnte sich eine kleine Sensation an. Die Herausgeber, die beiden jungen Heidelberger Germanisten Roland Reuß und Peter Staengle, hatten sich zum Auftakt Kleists Erzählung „Die Verlobung in St.Domingo“ vorgenommen. Das Besondere. Sie wiesen nach, daß viele Textstellen bisher falsch ediert wurden, und konnten erklären, warum Kleist immer wieder eigenwillig mit der deutschen Sprache umgegangen war. Kleist war zum ersten Mal auf Herausgeber gestoßen, die seine bewußten sprachlichen Regelverstöße verstanden und die nicht meinten, ihn korrigieren zu müssen.

Dem Verlag brachte es Lob ein, daß die Erzählung in einem schönen Leseband veröffentlicht wurde, während die dazugehörigen Erläuterungen getrennt in einem Beiheft erschienen. Der Leser hat dadurch die Möglichkeit, entweder zu schmökern oder sich auf eine geduldige Lektüre einzulassen, angeregt durch das Beiheft.

Dieses Editionsprinzip bleibt erhalten, und in diesen Tagen erscheint der zweite Band der Ausgabe. Er enthält die wohl bekannteste Kleist-Erzählung „Die Marquise von O...“, die zu Lebzeiten Kleists schon für einen Skandal sorgte. So wie er ist, hatte vor ihm noch keiner das Thema der Vergewaltigung in der Literatur behandelt.

Im Beiheft des zweiten Bandes finden sich Erläuterungen und ein Aufsatz darüber, was denn überhaupt unter einer kritischen Ausgabe zu verstehen ist. Mit veröffentlicht werden dieses Mal auch Handschriften von Wilhelm von Schütz, einem Zeitgenossen Kleists. Der befaßte sich als erster mit der Biographie des Dichters und schrieb Briefe ab, die Kleist an seine Verwandte Marie von Kleist geschickt hatte. Ein Vorgeschmack auf die Edition der Kleist-Briefe in späteren Bänden.

Jürgen Berger: An der Erzählung „Die Verlobung in St.Domingo“ habt ihr letztes Jahr nachzuweisen versucht, daß viele Textstellen bisher immer falsch ediert wurden. Wie ist zu entscheiden, was falsch und was richtig ist?

Roland Reuß: Eine Voraussetzung ist, daß Herausgeber sich selbst in Frage stellen lassen sollten, und zwar gerade von jenen Textstellen, die ihnen im ersten Moment unverständlich vorkommen. Wenn in Texten aber vermeintliche Ungereimtheiten auftauchen, sind Herausgeber häufig der Ansicht, das sei ein Versehen des Autors oder durch einen Setzfehler entstanden. Sie machen sich viel zu selten Gedanken darüber, ob diese Ungereimtheit nicht notwendigerweise in den Text gehört wenn also, wie in der „Verlobung in St.Domingo“, die Hauptperson plötzlich nicht mehr „Gustav“, sondern „August“ heißt, weil, so die Argumentation, Kleist sich da verschrieben oder der Setzer sich versetzt habe. Man kann daran sehen, wie herabgekommen die Literaturwissenschaft eigentlich ist. Denn einerseits existiert eine ungeheure Angst, daß eine Interpretation den Text belasten könnte, wogegen ohne weiteres mit einer ganz kruden Psychologie Interpretationen über die Psyche des Autors oder des Setzers angestellt werden. Die Aufgabe ist doch nicht, psychologisch zu spekulieren, sondern zuerst einmal die Texte zur Kenntnis zu nehmen, so wie sie überliefert sind. Was also eine kritische Ausgabe ist, kann gar nicht so einfach beantwortet werden. Jetzt, im zweiten Band, findet sich deshalb auch ein Aufsatz von mir, in dem ich eine vorläufige Antwort zu geben versuche.

Und was ist eine kritische Ausgabe?

R.R.: Für mich ist der Begriff der Kritik gar nicht ohne den Begriff der Krise zu denken. Der wird aber immer ausgeklammert, wenn von Kritik gesprochen wird.

Heißt das, ein Text sollte den Herausgeber genauso in eine Krise führen, wie das sonst nur persönliche Erschütterungen können?

R.R.: Wenn du so emphatisch fragst - ja, natürlich. Alles, was sich kritisch nennt, auch eine Klassikerausgabe, und dabei den Gedanken der Krise vergißt, kommt zu einer völligen Überbewertung dessen, was Kritik überhaupt sein kann. Krise heißt doch, alles, was für sich als sicher gilt, verschwindet vollständig in einem Abgrund. Der Verlauf ist immer derselbe. Du fühlst dich latent unwohl und versuchst das unter den Teppich zu kehren, ohne daß es dir wirklich gelingt. Aber irgendwann kann es zu einem Wendungspunkt kommen. Auf einmal wirst du von allem in Frage gestellt. Dagegen ist die Vorstellung, Literaturkritik sei die Infragestellung eines Textes anhand einer feststehenden Norm, meiner Ansicht nach völlig unkritisch. Denn bei einer wirklich kritischen Frage muß die Norm untergehen können, die du voraussetzt, wenn du anfängst zu kritisieren.

Gibt es in der „Marquise von O...“ ein Beispiel dafür?

R.R.: Ich diskutiere in meinem Aufsatz unter anderem, daß Kleist 77mal den Vater der Marquise als „Commendant“ bezeichnet und dreimal als „Kommandant“. In den Editionen dieses Jahrhunderts wurde im wesentlichen folgendes gemacht. Schmidt hat in seiner Ausgabe von 1904/1906 gemäß einer scheinbar unfraglichen Regel der Editionskunst gesagt, wenn da 77mal „Commendant“ steht und drei mal „Kommandant“, hat sich in den drei Fällen entweder Kleist oder der Setzer geirrt. Also hat er 80mal „Commendant“ geschrieben und gleich noch aus dem „C“ ein „K“ gemacht, so daß wir zum Schluß eine Schreibweise haben, die es bei Kleist gar nicht gibt. Sembdner dagegen kritisiert dann im Nachwort seiner Ausgabe, daß Schmidt den Fehler begangen habe, die einzige richtige Schreibweise „Kommandant“ zu tilgen, und zieht den Schluß, 80mal „Kommandant“ zu schreiben. Beide Male findet also keine Textkritik in dem Sinne statt, daß das Vorverständnis der Herausgeber durch diese Unregelmäßigkeit in die Krise geraten könnte und sie hieraus die Kriterien entwickeln, die für die Herausgabe des Textes maßgebend sind.

Die unterschiedlichen Schreibweisen ergeben also einen Sinn?

R.R.: Die eigenartige Schreibweise des „Commendant“ kommt vom lateinischen „commendare“ und tritt in eine Spannung mit dem Wort „Kommandant“. „Commendare“ heißt anvertrauen, in die Hand geben. Damit sind die intimen Verhaltensweisen jemandem gegenüber gemeint. Das meint etwas ganz anderes als die Verhaltensweisen eines „Kommandanten“, eines Befehlshabers. Und so ist es schlüssig, daß Kleist an einer Stelle im Text, wo kurz nacheinander die beiden unterschiedlichen Schreibweisen auftauchen, die Bezeichnung „Commendant“ für sein Verhältnis zu Tochter und Familie wählte, während er den Vater dann dem Befehlshaber russischer Truppen als „Kommandant“ gegenüberstehen läßt. Wenn ich beide Schreibweisen stehenlasse, nachdem ich mir klar gemacht habe, was sie bedeuten, dann ist es das Resultat eines kritischen Vorgehens. Ich vermute, Kleist wählte die beiden Schreibweisen, weil er in der Marquise von O... problematisiert, was die menschliche Person überhaupt ausmacht. Denn bei keiner Figur der Erzählung geht das, was sie nach außen hin repräsentiert, mit dem individuellen Verhalten zusammen.

Peter, du veröffentlichst jetzt eine Originalschrift von Wilhelm von Schütz, einem Zeitgenossen Kleists. Warum beschäftigte er sich mit dem Leben Kleists?

Peter Staengle: Ludwig Tieck wollte für seine erste Kleist -Ausgabe biographisches Material und schickte seine Helfershelfer aus. Dazu gehörte Schütz, eine schillernde Persönlichkeit, ein Parvenu, über den übrigens Goebbels promovierte. Schütz also schrieb die erste stichwortartige Skizze zu Kleists Leben. Die Informationen hatte er von Marie von Kleist, der Frau eines Cousins von Kleist. Außerdem hat er Briefe abgeschrieben, die Kleist an Marie geschickt hatte. Von Kleist selbst sind vergleichsweise wenig Briefe bekannt und noch weniger erhalten. Man streitet sich zum Beispiel bis heute noch um seinen exakten Geburtstag und hat sogar Astrologen befragt.

Du schreibst, daß die Schütz-Handschriften als Faksimile und als Umschrift abgedruckt werden müssen.

P.St.: Ja, das ist notwendig. Denn wenn man die Umschrift ohne die Handschrift veröffentlicht, werden dem Leser die Probleme der Entzifferung einer Handschrift vorenthalten. Er kann auch nicht mehr nachvollziehen, unter welchen Umständen Schütz geschrieben hat. Ob es schnell gehen mußte, ob er sorgfältig arbeitete, wieviel gestrichen wurde und so weiter. Es geht mir darum, den Leser für die Probleme solch einer Edition zu sensibilisieren und es ihm zu ermöglichen, die editorische Arbeit zu überprüfen. Wenn zum Faksimile die Umschrift dazukommt, sind sehr genau die Grenzen zu sehen, die unserer Arbeit als Herausgeber gesetzt sind.