„Am besten bleibt Walesa noch in der Reserve“

Der renommierte Schriftsteller Szczypiorski („Die schöne Frau Seidemann“), Abgeordneter der Solidarnosc, zur Regierungsbildung  ■ I N T E R V I E W

taz: War Walesas Koalitionsangebot an die kleineren Parteien ein Spiel mit offenem Ausgang oder eine durchkalkulierte Strategie?

Andrzej Szczypiorski: Ein Spiel war es sicherlich nicht. Gestern, am Mittwoch, haben wir sieben Stunden mit Walesa gesprochen, er hatte sich schon für eine Koalition entschieden. Aber vorher mußten sich die kleineren Parteien auch entscheiden. Nach 45 Jahren beenden sie die Koalition mit der Kommunistischen Partei.

Können die Versuche der Demokratischen Partei und der Bauernpartei, jetzt ein eigenes Profil zu entwickeln, überhaupt glaubwürdig sein?

Die Bauernpartei war eine Scheinpartei. Gestern sagte ihr Vorsitzender Bentkowski: „Heute wissen wir für unsere Identität zu kämpfen. Es ist unsere letzte Chance.“ Gestern haben wir eine historische Stunde im Parlament erlebt. Obwohl die Stimmung sehr komisch war, etwas Operettenhaftes hatte. Aber vielleicht ist es so in der Geschichte.

War Moskaus Placet zu einer von Solidarnosc geführten Regierung ausschlaggebend für die gestrige Entscheidung ?

Schon vor einigen Tagen hat der sowjetische Botschafter mit den Vertretern von Bauernpartei und Demokratischer Partei gesprochen. Danach haben sie weiter mit uns verhandelt. Das heißt doch, daß es auf der sowjetischen Seite keinen unüberwindlichen Widerstand gegeben hat.

Wenn Schlüsselpositionen weiter von Kommunisten besetzt werden - kommen da nicht riesige Probleme auf Solidarnosc zu, besteht da nicht die Gefahr einer institutionalisierten Dauerkrise?

Wenn wir Politik machen wollen, müssen wir auch ein Risiko eingehen. Dazu habe ich gestern im Parlament gesagt, daß wir die Bedeutung der Nomenklatura nicht überschätzen sollten. Die Kommunistische Partei bildet eine riesige Kraft nur, solange sie noch an der Macht ist. Die Macht einer neuen Regierung und des neuen Ministerpräsidenten wird ziemlich weit gehen. Die Nomenklatura dagegen hat einfach keine gemeinsamen Ideen und Ziele und stellt keine gesellschaftliche Kraft dar. Die Menschen, die zu ihr gehören, verfolgen höchstens noch ein paar gemeinsame Interessen. Andererseits gibt es in der PVAP immer noch sehr viele Intellektuelle, die auch in der neuen Lage Positives leisten wollen. Daher dürfen wir nicht sagen, ab morgen schieben wir alle Mitglieder der PVAP in die Opposition. Warum sollen wir mit den zahlreichen kommunistischen Fachleuten, die sich nicht doktrinär geben, nicht auch zusammenarbeiten ? Ich bin ein gemäßigter Optimist. Natürlich sind da auch einige Institutionen, die Widerstand leisten.

Wie hat denn die polnische Öffentlichkeit auf die taktischen Manöver Walesas reagiert?

Der Teufel steckt in den Details. Wir stellen uns jetzt die Frage, wie Walesa die Rolle des Ministerpräsidenten mit seiner Funktion als Gewerkschaftschef unter einen Hut bekommenen will.In unserem System ist der Staat noch der wichtigste Arbeitgeber. Der Ministerpräsident gleicht einem Fabrikdirektor. Walesa ist sich dieses Widerspruchs bewußt. Gestern sagte er, sollte er Ministerpräsident werden, wird er auf die Führung der Gewerkschaft für zwei, drei Jahre verzichten.

Das hieße ja, er würde den Kontakt zur Basis aufgeben. Die Massen zu mobilisieren und sie im Griff zu haben war doch seine Stärke. Glauben Sie wirklich, darauf kann und will er verzichten?

Gestern haben wir auch darüber gesprochen. Einige meinten, in nächster Zeit müßten wir mit einer zunehmenden Radikalisierung in der Bevölkerung rechnen. Ich bin nicht dieser Ansicht. Walesa als Persönlichkeit verfügt über solch einen Einfluß, er repräsentiert eine so starke Autorität, daß die überwiegende Mehrheit der Polen sagen wird: Naja, jetzt ist einiges machbar, wir müssen ruhig bleiben und schauen erst mal, was mit Walesa an der Spitze passiert. Er kann mit einem sicheren Kredit rechnen.

Meinen Sie tatsächlich, Walesa wird die Bürde des Ministerpräsidenten übernehmen?

Wissen Sie, er ist ein sehr rätselhafter Mensch. Wir haben ihn gestern gefragt, aber er hat nicht eindeutig geantwortet. Was morgen oder übermorgen sein wird, kann ich nicht sagen. Wenn er nicht will, könnte Professor Geremek Ministerpräsident werden. Persönlich halte ich das für die beste Lösung, Geremek ist der geeignetste Kandidat. Und für uns wäre es auch günstiger, dann könnte Walensa noch in der Reserve bleiben.

Eine solche Taktik bedeutet doch nichts anderes, als daß auch auf eine Solidarnosc-Regierung erhebliche Spannungen in der Bevölkerung zukommen würden.

Ja, unsere ökonomische Lage ist tragisch. Unsere Regierung hätte aber eine große Chance, eher als eine kommunistische. Wir müssen trotzdem damit rechnen, daß die erste Solidarnosc -Regierung die Krise nicht meistert. Wir stehen vor einer gewaltigen Niederlage mit einem ungeheuren Vertrauensverlust. Ein Erfolg wäre es schon, wenn in einigen Monaten die Leute sagten, naja, die wirtschaftliche Lage ist wenigstens nicht schlechter als im August. Wenn Walesa an der Spitze dieser Regierung stünde, verschlisse er seine bisherige Rolle. Er bleibt unsere letzte Karte in diesem Spiel.

Hat Walesas eigenmächtiges Vorgehen in der Koalitionsfrage nicht Unmut innerhalb der Solidarnosc hervorgerufen? Seine Strategie des Alles-oder-nichts hätte doch auch ins Auge gehen und den gesamten Reformprozeß gefährden können.

Ich kann nur sagen, was für eine Stimmung bei uns in der Fraktion vorherrschte. Sie war ziemlich schlecht. Viele Kollegen zeigten ihre Unzufriedenheit mit Walesas Haltung. Er hat das Spiel mit dieser Koalition ohne die Fraktion betrieben. Seine Haltung dazu: „Ihr plaudert nur, seid feige und wollt keine Verantwortung übernehmen.“

Verbirgt sich dahinter nicht das klassische Vorurteil autoritärer Herrschaftsformen gegenüber dem Parlament als „Quasselbude“?

Ja, natürlich. Ich habe gestern gesagt, das ist die typisch bolschewistische Sicht. Daran kann man sehen, wir sind alle Kinder dieses Systems. Und davon gibt es schon zwei Generationen. Die Antikommunisten bei uns verhalten sich genauso wie die Genossen aus der Partei.

Interview: Klaus-Helge Donath