piwik no script img

Prima Leben unterm Stiefel

Montagsexpertinnen kommen zu Wort. Heute: Nena  ■  Ü B E R L E B E N S B Ö R S E '89

Ein seltenes Ereignis geschah jüngst im heißesten August im „Pelze“ MultiMedia Laden an der Potse. Ausschließlich Damen, Sternchen, Lesben, K.V.s und solche, die es nicht werden wollen, konnten einer seltenen Lesung zuhören.

Rita Bischof las bisher unveröffentlichte Texte: „Die schöne Kunst des Trübsinns“. Einige waren ganz hingerissen: „Die Stimme! Mit was für einer Stimme sie las. Manchmal konnte ich nur auf die Stimme achten.“ Andere - kritischer tadelten die traditionelle Methode; auch der Inhalt hätte sich seit Jahren nicht verändert. Brigitta Sgier, mit umwölkter Stirn, war nur schwer aufzuhalten.

Anke Rixa-Hansen, Mahide vom Pelze - ein Kreis von Verehrerinnen. Oft wurde die Eingangstür zur Geräuschbelästigung; immer mehr reisten an. Elisabeth Lenk, viele, viele Jahre mit Träumen und deren Theorien beschäftigt, Verfasserin des ersten erotisch-ästhetischen Textes (1975 Ä+K Verlag „Die sich selbst verdoppelnde Frau“) las autobiografische unveröffentlichte Texte, die höchste Heiterkeit auslösten.

Mit spitzer Finesse - die momentane Trendwende markierend erzählte sie von allgemeiner Veränderung und eigenem WACHSE(I)N. „Das Manifest der geöffneten Augen“, geschrieben, die Mediensüchtigen zu schütteln und zu rütteln, ihnen das Ausmaß ihrer Sucht vorzuführen, brachte mehr als Gegluckse bei den andächtigen Zuhörerinnen.

Meine Erinnerung reicht zurück, Mitte der Siebziger, da saß sie mutterseelenallein, an einem sommer-sonnen-heißen Nachmittag, an einem niedrigen, dunkelbraunen Holztisch mit schwarzer, blanker Glasplatte, auf der ein funkelndes Weißweinglas noch unberührt stand. Obwohl es ein öffentlicher Platz war, hatte ich Scheu, ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Versunken in eigenem Sinnen, bemerkte sie kaum mein Kommen. Angesprochen, erwiderte sie, sie habe gerade den Sprung vom gemeinen „Müssen“ zum eigenen „Wollen“ geschafft. Früher hätte sie gesagt, sie „müsse“ jetzt gehen, ab heute würde sie sagen, sie „wolle“ jetzt gehen. Dieser Tag sei ein Geburtstag, sie feiere ihn heute.

Und nun, 15 Jahre später? „Das Manifest der geöffneten Augen“. Ein Schritt vom Traum zum Wach-sein, nicht im Sinn von Wache oder, altmodisch, Abendwache.

Mit so viel zerbrechlicher Ironie und flinker, unmittelbarer Kehrtwende schlängelt sich der Text, daß die Balance von Innen und Außen die Zirkustänzer in der Kuppel gar nicht ratlos läßt. Wenn Wallraff - man verzeihe mir den groben Sprung - seine Reportagen in der 'Zeit‘ als Selbsterfahrungsreisen verkauft; wenn des weiteren in O -Berlin, der Hauptstadt, im Herbst das erste Frauenzentrum mit staatlich-stattlicher Erlaubnis eingerichtet wird; wenn Helke Sander im „Bericht aus Bonn“ keinen amtierenden Politiker findet, der sich schon mal geschämt hat, ein Mann zu sein; wenn Oskar Negt sich zusätzlich nicht schämen kann, Deutscher zu sein; wenn weiterhin alle befragten Männer inklusive Bundeskanzler Kohl ihr die Antwort darauf schuldig bleiben: Gibt es eine feministische Erklärung für die Teilung Deutschlands? Dann stellt sich doch die Frage: Was fehlt? Meine Antwort lautet: Eine Mehrheit ohne gewalttätige Selbstverständlichkeiten, eine Minderheit ohne sanftmütiges Unterwerfungsgebaren.

Freundlich grüßt A.E.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen