: „So offen ist die Grenze Ungarn-Österreich“
Am Samstag nutzten hunderte DDR-Bürger ein Volksfest der paneuropäischen Bewegung zur Flucht / Der rostige Schlagbaum war eigens für das grenzüberschreitende Picknick hochgegangen / Die vier Grenzposten hatten keine Chance ■ Aus Sopron Heide Platen
Am Samstag abend ist das ungarische Barockstädtchen Sopron leergefegt von jenen DDR-Republikflüchtlingen, die hier wochenlang die Straßen bevölkerten. Der Zeltplatz Mayarfalva, auf dem sie sich zu immer neuen Fluchtversuchen zusammendrängten, ist vorerst verlassen. Zurück blieben Zelte, Wäsche. Verwaiste Gegenstände liegen verstreut in Wind und Regen des diesigen, kalten Tages.
Die hier zelteten, haben sich zu Fuß, per Fahrrad, mit dem Auto in den Mittagsstunden auf den Weg gemacht nach Sopronpüszta, einem einsamen Dorf nördlich Sopron. Ein langsamer, kilometerlanger Zug. Sie werden den Grenzübergang hinter dem Bauernhof Piuszpuszta, inmitten von Äckern, Sümpfen und Wiesen gegen 15 Uhr erreichen.
Die Stimmung vorher ist angespannt. Den ganzen Zug lang hatten die DDRler, die sich nach und nach unter das „Paneuropai Piknik“ der Ungarn mischten, nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen gesetzt. Als warteten sie hinter jeder Biegung des Feldweges darauf, daß eine ungarische Grenzstreife auftaucht, um sie festzunehmen. Viele Kinder sind dabei. „Gleich sind wir in Österreich!“ ruft ein kleiner Junge. Er wird zur Ruhe gemahnt.
Dafür lärmen die ungarischen Familien um so mehr. Sie sind unterwegs zu einem ungarisch-österreichischen Grenzfest, zu dem die paneuropäische Bewegung beider Länder aufgerufen hatte. Das Ungarische Demokratische Forum ist dabei, ungarische Liberale, der Staatsminister Imre Pozsgay. Örtliche Verbände und die Kommune Sopron unterstützen das Fest, das in einem Zeltlager nahe der Grenze für den Abend Speckbraten verspricht. Von österreichischer Seite soll der CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg auf die Grenze zuwandern. Auf dieser Seite macht seine Tochter Walburga am Ackerrand die Honneurs. Als Redner werden Sandor Csoori und György Konrad erwartet. Öffentliche Busse übernehmen den Zubringerdienst.
Auch der Vater aus der DDR ist wieder dabei, der eins seiner Kinder zehn Kilometer durch die Wälder trug und festgenommen wurde (taz vom Donnerstag). Er geht ganz vorne. Der junge Mann, der es ebenfalls mehrmals versuchte und verzweifelt zum deutschen Konsulat in Budapest zurückkehrte, kommt als einer der letzten.
Einige hundert Meter hinter dem malerischen Bauernhof Piuszpuszta stehen fünf lachende Grenzsoldaten am Wegesrand. Die DDR-Bürger im Zug stocken, wollen zögern. Ein leises Murmeln setzt ein: „Weitergehen! Ganz ruhig weitergehen! Immer geradeaus!“ Und: „Viel Glück! Auf Wiedersehen!“
An einem weitgeöffneten großen Holztor stehen vier Grenzbeamte zur Paßkontrolle bereit. Vor dem Bauch tragen sie Kästen mit Stempeln und Formularen. Sie gehen im Gedränge fast unter. Die Ungarn präsentieren ihnen eifrigst die Pässe. Die DDRler, ganze Menschentrauben, schieben sich rechts und links an ihnen vorbei. Dann kommen die Österreicher. Sie schieben sich gegen die drängende Menschenmenge aus Ungarn. Mittendrin überragen Pferdeköpfe die wogende Menge. Durch den Tumult rollen hupende Autos hindurch. Dazwischen Radfahrer, Trachtengruppen und Blaskapellen. Dann kommen die Pferdewagen. Reiter im Mexikaner-Kostüm brüllen „vamos!“. Das Getümmel ist infernalisch auf dem schmalen, zehn Meter langen Wegstück zwischen dem Holztor und dem verrosteten rotweißen Schlagbaum, an dem eine Handvoll österreichischer Grenzer Wache hält. Dazwischen mengen sich die Journalisten, die das Drängeln schließlich gelernt haben.
Paneuropäische Funktionäre heben immer wieder unerschütterlich zu Reden an. Blaskapellen übertönen sie. Da schüttelt der alte Ungar Josef Zwick, Bauernvertreter und Paneuropäer, lieber einem österreichischen Bürgermeister die Hand.
Ein älteres DDR-Ehepaar lugt vom Grenzpfosten auf die Kontrolleure. „Gehen Sie doch!“ wird es aufgefordert. Die beiden stehen wie gebannt und starren auf einen der Uniformierten. Doch der ist gerade damit beschäftigt, sich einer Biene zu erwehren. Ein junges Paar kommt mit seinem Motorrad. Auch das wird - geschoben und gezogen - durch die Menge bugsiert. Szenen der Tränen, der Fassungslosigkeit und der Erleichterung nach wochenlanger Anspannung. Vor allem jene, die nur vorsichtig und zögerlich gekommen waren, liegen sich hinter der Grenze schluchzend in den Armen: „Wir haben es geschafft!“ „Ja“, sagt ein Organisator des Picknick, „so offen ist die Grenze zwischen Ungarn und Österreich eigentlich schon immer gewesen. So ist das eben bei uns!“
Die Veranstalter haben am Abend zehntausend Ungarn und Österreicher gezählt, die drei Stunden lang zwischen Grenze und Festplatz hin- und herpendelten, sie mehrmals überquerten. Das Programm hatte auch die Aktion „Baue ab und nimm mit“ angekündigt. Mit Zangen knipsten sich viele den verrosteten Stacheldraht aus dem Grenzzaun und trugen ihn, zu Sträußchen gebunden, davon.
Die Soproner Polizei hatte inzwischen mit einem Verkehrschaos zu kämpfen. DDRler blockierten mit ihren stehengelassenen Trabis eine Ausfallstraße. Angereiste Ungarn, Touristen und rund 3.500 Motorradfahrer verstopften die Innenstadt. Sie defilierten mittags mit dröhnenden Maschinen zum Motorradkorso durch den Ort. Einige hatten am Abend vorher einen der ihren, einen DDR-Kumpel, zum Grenzübergang Klingenberg geleitet. Er durchfuhr die Sperren mit seiner Sozia mit Vollstoff im Slalom. Die internationalen Biker mit ihren Gold Wings und BMWs nahmen Anteil. Nicht nur am Schicksal der Grenzgänger, sondern auch daran, daß andere DDRler bei der Flucht ihre Motorräder zurückgelassen hatten. Das fanden sie hart.
Am Samstag abend, im kalten, grauen Nieselregen, sind die aufgeweichten Feldwege zum Übergang leergefegt. Ein Motorradfahrer versucht, noch einmal dorthin zu kommen. Schon nach wenigen hundert Metern ist Schluß. Freundlich, aber bestimmt wird er von den Grenzsoldaten zurückgewiesen. Hier geht heute nichts mehr. „War nur bis 18 Uhr!“ sagt lachend ein Offizier.
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