Sexueller Mißbrauch-betr.: "Sexueller Mißbrauch: Streit über Diagnosemethode", taz vom 12.8.89

betr.: „Sexueller Mißbrauch: Streit über Diagnosemethode“, taz vom 12.8.89

(...) Die Diagnosedebatte macht einmal mehr die Hilflosigkeit der „wissenschaftlich arbeitenden professionellen HelferInnen“ deutlich. Eine öffentlich geführte Debatte über Kinder als sexuelle Wesen und deren selbstverständliches Recht auf Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse mit PartnerInnen ihrer Wahl ist dringend erforderlich. Hier dürfen nicht von vorneherein Tabus gesetzt werden, wie zum Beispiel Pädophilie (als wichtigster Punkt neben den ErsatztäterInnen beim Inzest).

SexualpädagogInnen der verschiedensten Richtungen sind sich mittlerweile einig darin, daß Sexualität frei er- und gelebt werden soll; doch auch sie machen immer dann eine Kehrtwendung, wenn diese Emanzipation des sexuellen Erlebens eines Kindes zum Sexualkontakt Kind/Erwachsener führt. Sie scheuen diese Auseinandersetzung trotz besseren Wissens (siehe hierzu: A.Hopf: Theorie und Praxis der Sexualpädagogik, H.Kentler: Eltern lernen Sexualerziehung. Aber auch Ergebnisse von E.Bornemann: Das Geschlechtsleben des Kindes u.a.) Haeberle zum Beispiel bescheinigt Pädophilen eine strikte Sexualmoral und Achtung vor den Bedürfnissen des Kindes, zieht dann aber eine für mich nicht nachvollziehbare Wendung und erklärt sie zur Krankheit. (...)

Kinder werden planmäßig in Abhängigkeiten gehalten und hineinmanövriert. Wen wundert es da, daß sie nach diesen „anerkannten Regeln“ (Erziehung/Manipulation in der Familie, in KiGa/KiTa, Schule, Ausbildung, Beruf, durch gezielte Informationsunterdrückung etc.) auch im sexuellen Bereich der Erwachsenenwelt angepaßt werden. Auch die Diagnose -Debatte weist darauf hin, daß Kinder hier nur der Erwachsenenwelt angepaßt werden sollen, was unter anderem bedeutet Verbot von Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen - ohne genau und fundiert aussagen zu können, warum die Sexualität nicht stattfinden soll.

Ich will hier nicht der Ausübung der Pädophilie das Wort reden, sondern aufzeigen, welche Lücken in der Debatte offen sind. Wir (Erwachsenen) sollten unsere Beziehungen untereinander genauer unter die Lupe nehmen und uns über eigene Herrschafts- und Macht„gelüste unseren PartnerInnen und „unseren“ Kindern gegenüber klarer bewußt werden.

Leitlinien sollten dabei die Bedürfnisse der Kinder sein, sie sind noch relativ frei von kulturellen, zivilisatorischen und erzieherischen Zwängen. Wenn wir zu den Wurzeln zurück wollen, sollten wir uns den Kindern vorurteilsfreier nähern und sie zum Gradmesser allen Handelns machen, wenn deren Interessen berührt werden.

Norbert Sauerkraut, Arbeitsgemeinschaft humane Sexualität, Berlin 61

(...) Die Sprache des Artikels ist sowohl sexistisch als auch verfälschend. „Anatomisch korrekte Puppen“ ist auch im Deutschen die Bezeichnung für diese Puppen. Zur Erhöhung der Anschaulichkeit sollten andere Möglichkeiten gesucht werden, als die Festigkeit der Brüste und den Erektionsgrad der Penisse zu beschreiben. Daß der Autor die „in rot applizierten“ Brustwarzen als „kunstvoll“ bewertet, hat weder Informationsgehalt noch interessiert es mich (und wahrscheinlich die meisten LeserInnen) im geringsten.

In der wissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff „Inzest“ als unzutreffend und beschönigend abgelehnt, wenn damit der sexuelle Mißbrauch von Kindern bezeichnet werden soll. Statt dessen wird je nach Kontext von sexuellem Mißbrauch an Kindern oder Vater-Tochter-Vergewaltigung gesprochen.

Unbeleckt von derartiger Sachkenntnis macht Henk Raijer aber sogar eine „Inzest-Hysterie“ aus, wenn endlich begonnen wird, das reale Ausmaß von Männergewalt öffentlich wahrzunehmen und zu diskutieren. Ebenso daneben ist es, von „Inzest-Eltern“ zu sprechen, da in ca. 99 Prozent der bekanntwerdenden Fälle Männer die Täter sind, laut Statistik des Bundeskriminalamtes.

Die vorgegaukelte Wissenschaftlichkeit des Artikels ist lächerlich: Ein einzelner Wissenschaftler wird zitiert, der Bedenken bezüglich der Stichhaltigkeit der Methode äußert. Es dürfte doch auch den taz-AutorInnen bekannt sein, daß es ein beliebtes Spiel unter bestimmten AkademikerInnen ist, der jeweils anderen Seite gravierende methodische Fehler vorzuwerfen.

Die Puppenmethode wird üblicherweise eingesetzt, um bei bereits bestehendem, begründetem Verdacht auf sexuellen Mißbrauch weitere Erkenntisse zu gewinnen. Hierzu wurde sie entwickelt und ist sie auch geeignet. Die Überinterpretation eines Diagnoseverfahrens ist nicht der Methode, sondern den AnwenderInnen anzulasten.

Die Fragen nach den Grenzen von Psychodiagnostik und ob und wie von oben, durch den Staat beziehungsweise die Staatsgewalt strukturelle Männergewalt bekämpft werden kann, sind sicher diskussionsbedürftig. Allerdings gehen sie in diesem Artikel unter zwischen den Sexismen und Halbwahrheiten, die für mit dem Thema nicht vertraute LeserInnen nicht zu durchschauen sind.

Claudia Mühlbauer, Berlin 36