piwik no script img

„Hier herrscht ja ein Ton wie in der DDR!“

Perfektes Chaos im Nachtzug Wien-Frankfurt: Erzürnte WestlerInnen verteidigen ihre reservierten Plätze gegen die Republikflüchtlinge / Erste Erfahrungen: Das Portemonnaie mit den frischen D-Mark geklaut / In der Sonntagnacht kamen noch mehr Flüchtlinge  ■  Aus Wien Heide Platen

Wien, Westbahnhof, Sonntagabend um 20.45 Uhr. Der Oostende -Expreß fährt ab nach Holland über Linz, Würzburg, Frankfurt. Der Zug ist schon zu Beginn überfüllt. Rund hundert DDRler reisen mit in Richtung Sammelstelle nach Gießen. Im österreichischen Wels bricht der reale Kapitalismus in Gestalt einer resoluten Burgenländerin in das erste Abteil ein. „Was ich bezahlt habe, will ich auch haben!“, klagt sie schimpfend ihre Platzreservierung ein. Zusammenrücken? Nein! Sie hat ja schließlich bezahlt! Das Gezeter Zugestiegener setzt sich während der Nacht fort. Überall tauchen nach unerfindlichem System der Österreichischen Bundesbahn plötzlich Reservierungsschilder auf, freie werden zu Zollabteilen. Wenigstens das Chaos ist perfekt. Die zugestiegene zahlende Kundschaft scheucht die Republikflüchtigen immer wieder von den Sitzen. „Jetzt geht das schon wieder los. Das ist ja wie im Osten“, sagt einer und bescheidet sich dann: „Besser, als stundenlang an der Grenze im Schlamm liegen.“

Im Abteil sitzen die beiden jungen Paare, die am Tag zuvor beim Grenzübergangsfest von Sopron die Gemüter der Fernsehnationen bewegt hatten. Isabel und Klaus waren während des „Paneuropai Piknik“ mitsamt ihren Motorrad durch den Übergang bei Piuszpuszta geschoben und gezogen worden waren. Die beiden fielen sich hinter der Grenze weinend um den Hals. Beate und Falko waren kurz vor Toresschluß zu Fuß gekommen. Auch ihre Tränen im Scheinwerferlicht.

Alle vier haben schon am ersten Tag ihre Erfahrungen mit den unterschiedlichen Gesichtern des freien Westens hinter sich. Isabel und Klaus ist in Wien das Portemonnaie gestohlen worden. Als Beate und Franko dort an einem Eisstand mit ihren D-Mark aus der Botschaft bezahlen wollten, mußten sie ein Lamento über sich ergehen lassen, als ob sie die Zeche prellen wollten. Schillinge hatten sie nicht. Der Versuch, die tropfende Eistüte zurückzugeben, machte nichts besser. Beate: „Daß es irgend etwas gibt, was wir nicht mit Westmark bezahlen könnten, hab ich erst gar nicht in den Kopf gekriegt.“

„Das liegt an

den DDRlern!“

Nachts gegen drei Uhr werden die Szenen im Zug härter. Immer neue Zugestiegene reklamieren ihre Plätze. Sie tun das teils rüde, scheuchen die Schlafenden hoch wie auf dem Kasernenhof. Isabel empört sich: „Der Ton, der hier herrscht, das ist ja wie in der DDR!“

Die Konflikte zwischen den alteingesessenen und den nagelneuen BundesbürgerInnen spitzen sich zu. Das geht haarscharf an der ersten deutsch-deutschen Prügelei vorbei. „Du kannst auch nichts dafür, daß du hier geboren bist!“ beschimpft ein Sachse einen Franken, der die DDRler auch gleich von den Plätzen im Abteil verscheuchen will.

Während dessen läuft der Schaffner Reklame für die österreichische Bundesbahn. Immer wieder reißt er die Türen auf, sucht Zugestiegene, jagt Schlafende hoch. Wenn sich ein neuer Fahrgast über die Enge beschwert, bekommt er zu hören, das liege „an den DDRlern“. Daß die eigentlich nicht schuld an überfüllten, doppelt belegten Zügen sein können, will ihm nicht in den Kopf. Einige Fahrgäste gebärden sich noch eine geraume Weile, als wollten ihnen die Zonis gleich den ganzen Zug wegnehmen. In Würzburg steigt dann auch noch eine Polizeistreife ein, leuchtet kurz in jedes Abteil und verschwindet wortlos.

Das Kind blieb zurück

Beate und Franco haben sich erst während ihrer Fluchtversuche kennengelernt. Beate, schmal und ernst, wird noch viele Behördengänge vor sich haben. Ihre dreijährige Tochter ist in der DDR zurückgeblieben. Sie sorgt sich, daß das Kind vielleicht nicht nachkommen darf. Franco, schon vor dem Konsulat in Budapest dabei, schilderte damals, warum er die DDR verlassen wollte. Es war nicht der Ärger wegen seiner Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe. Es waren auch nicht die Schwierigkeiten, die er bekam, weil er an Veranstaltungen der Friedensbewegung teilgenommen hatte. Auslöser war das Verhalten der Behörden nach seiner Scheidung. Für ihn gebe es keine neue Wohnung, bekam er gesagt. Er habe ja eine - er könne bei seiner geschiedenen Frau leben.

Isabel und Klaus sind beide 22 Jahre alt. Sie hat nebenbei gekellnert, um sich das Geld für die Ungarnreise zusammenzusparen. Klaus ist Metallfacharbeiter. Das Motorrad, das die Kameralinsen auf sich zog, hat er Stück für Stück selber zusammengeschraubt, gehegt und gepflegt. Der Beiwagen blieb zurück. Die beiden werden die AWO, Baujahr 1954, verkaufen. Sie hoffen auf einen Liebhaber.

In der deutschen Botschaft in Wien trafen am Sonntag nachmittag weit mehr Flüchtlinge ein als die rund 500 vom Soproner Fest. In der Nacht zum Montag waren sie während eines schweren Gewitters rund um Sopron und weiter südlich über die Grenze gekommen, an einer Stelle sollen es 60 gewesen sein. Sie kamen auf Eisenbahnstrecken, sind durch Gebüsch und Sumpf gerobbt und gekrochen. Von Mücken zerstochen und schlammverschmiert erreichten sie die Botschaft in der Metternichgasse.

Hoffnung auf die FreundInnen

Im Zug nach Frankfurt erzählen sie sich davon noch bis in die späte Nacht hinein, geben Berichte, wer es wie und wo geschafft hat. Viele kennen sich mittlerweile untereinander, fragen sich gegenseitig, ob diese oder jener auch dabei sei. Die Flucht ist für sie noch realer als die Ankunft in der Bundesrepublik. Isabel sieht aus dem Fenster: „Ich glaub es noch gar nicht. Das ist wie Urlaub. Als wenn ich träume.“

Daß sie nicht nur mit Begeisterung begrüßt werden, ist ihnen klar. Sie stellen sich darauf ein. Sie setzen auf die FreundInnen und Verwandten, die schon vor ihnen gekommen sind.

Ankunft um 5.15 Uhr in Frankfurt. Eine Stunde später geht es weiter noch Gießen. Der Weg zur zentralen Sammelstelle ist mit Stellenangeboten gepflastert. Neben etlichen windigen Versuchen, zu billigen Arbeitskräften zu kommen, gibt es auch reelle Angebote. Handwerksbetriebe suchen Facharbeiter.

Auf den Gehsteig liegt Kleingeld aus der DDR. Neben dem Zeitungskiosk steht ein Ständer mit Briefumschlägen, die sich einen amtlichen Anschein geben. DDR-Familien werden aufgefordert, jeweils nur einen einzigen zu entnehmen: „Wichtig für Ihre Unterlagen.“ Drinnen bietet eine Versicherungsfirma Hilfe an - zum Beispiel beim Autokauf.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen