Die CSSR-Gesellschaft wacht langsam auf

■ Am 21. Jahrestag der Invasion steht das Regime unter Druck von innen und außen / Von K.-H. Donath

Noch hält sich in Prag die alte Garde der Herrscher von Breschnews Gnaden. Die Frage ist, wie lange noch. Langsam, aber sicher nähert sich auch das offizielle Moskau dem Schuldeingeständnis zur Invasion von 1968. Ähnlich wie seinerzeit im Fall Afghanistan heißt es jetzt in der 'Iswestija‘: Heute würden wir das nicht noch mal tun.

„In dieser Wüste kann man nicht einmal anständig über die Liebe schreiben“, schrieb ein tschechoslowakischer Schriftsteller kürzlich und meinte die moralische Einöde , zu der sein Land in den zwanzig Jahren seit der Niederschlagung der Reformbewegung geworden ist. Korruption, Unterwürfigkeit und doppelte Moral haben sich breitgemacht wie in keinem anderen Land des Warschauer Pakts. Dissidenten, die das beklagen und die die CSSR während des Prozesses, der von den Machthabern euphemistisch mit „Normalisierung“ tituliert wurde, nicht verlassen haben, geben der tschechoslowakischen Intelligenz einen Großteil der Schuld an der Wüstenbildung. Sie habe sich nach 1970 „in den politischen Ruhestand versetzen lassen“.

Als Ende 1987 ein Führungswechsel an der Parteispitze der KPC vollzogen wurde, interessierte das in Prag niemanden außerhalb der Partei. Gustav Husak, der 1968 die Sowjetunion um „brüderliche Hilfe“ ersucht hatte, machte einem jüngeren Platz, Milos Jakes. Das war alles. Auch er war ein Mann des Apparats, der zwar im August 1968 nicht direkt mitgewirkt hatte, die Karriere aber seiner Loyalität gegenüber den stalinistischen Kräften verdankte. Zum Hoffnungsträger avancierte er nicht.

Und doch tat sich nach seiner Wahl etwas in Prag. Der neue Ministerpräsident Adamec nahm Reformen in Angriff, die über Lippenbekenntnisse zur sowjetischen Perestroika hinausgingen. Neben einer umfassenden Reorganisation der Wirtschaft wurden den Bürgern mehr Rechtssicherheit und verbesserte Reisemöglichkeiten in Aussicht gestellt. Im Umgang mit der Opposition plädierte Adamec für „politische Lösungen“ und einen „offenen, demokratischen Dialog“. Und im Herbst letzten Jahres verloren Vasil Bilak und Jan Fojtek, beide Vasallen Breschnews, ihre ZK-Ämter.

Anfang dieses Jahres, im Zusammenhang mit einer Demonstration der Charta77 zum Gedenken an die Selbstverbrennung des Studenten Jan Pallach 1969, zeigte sich Prag dann wieder mit der gewohnten Brutalität. Den Festnahmen folgten Prozesse, Vaclav Havel und andere wanderten für mehrere Monate in den Knast. Im März verabschiedete das Parlament auf Initiative seines Vorsitzenden, des Altstalinisten Indra, dann noch Strafverschärfungen für Demonstranten.

Das Ende der Lethargie

Doch die Opposition ließ sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil, sie konnte sich deutlicher als zuvor ins Bewußtsein der Bevölkerung bringen. Zwar herrscht noch immer keine Aufbruchstimmung, aber etwas ist in Bewegung geraten, Lethargie beschreibt den Zustand nicht mehr treffend. Das bemerkt auch die KP, die sich in einem internen Papier des ZK-Präsidiums denn auch gehörig alarmiert zeigt.

Derweil wächst der Druck von außen auf Jakes und die alte Garde. Nach Polen und Ungarn schickt sich jetzt auch die Sowjetunion an, eine zaghafte Umbewertung der Ereignisse von 1968 vorzunehmen. Während doch offiziell noch die hergebrachte Version von der „brüderlichen Hilfe“ gilt, sind inoffiziell schon andere Stimmen zu hören. So zitierte die sowjetische Regierungszeitung 'Iswestija‘ den damaligen stellvertretenden Außenminister Mazurow mit den Worten: „Es ist schwer, die Gründe zu verstehen, die die Führung unter Leonid Breschnew zu dem Risiko verleiteten, Truppen in die Tschechoslowakei zu entsenden, wenn man nicht die Ereignisse jener Zeit in Betracht zieht.“ Und auf die Frage, ob er eine ähnliche Operation unten den gegenwärtigen Bedingungen befürworten würde, antwortete Masurow mit einem klaren Nein.

Der Führung im Prager Hradschin muß das Blut in den Adern gefrieren, denn immer stärker bröckelt ihre Legitimation von Gnaden Breschnews, der sie einst als Retter gegen die „antisozialistische Revolte“ eingesetzt hatte. Sollte Moskau demnächst auch offiziell und unmißverständlich Selbstkritik üben, dann wäre es das Signal zum Königsmord für Prags Reformer, die heute noch im zweiten Glied stehen. Der alten Macht, innen wie außen ohne Rückhalt, blieben nur noch Militär und Polizei.

Die Reformanhänger haben in den zurückliegenden Monaten auf sich aufmerksam gemacht. Eine Schlüsselrolle hat auch dabei wieder die 'Iswestija‘ inne, die in einem Interview Rudolf Hegenbart, den Leiter der Abteilung für administrative Organe beim ZK der KPC, zu Wort kommen ließ, der eine zentrale Position im Hintergrund der Parteiführung bekleidet. Ungeschminkt äußerte sich Hegenbart zu Verfallserscheinungen und Deformationen in seinem Land: „Wenn wir in der tschechoslowakischen Gesellschaft keine Perestroika durchführen, werden wir in eine tiefe historische Krise geraten. Das ist sehr gefährlich.“ Und mit Nachdruck wies er darauf hin, mittlerweile gebe es viele, die so dächten: „Mitglieder der KP und anderer Parteien, Parteilose und die Jugend. Darin sehe ich auch eine Hoffnung, wieder zu einem hochentwickelten Land Europas zu werden.“ Im gleichen Atemzug illustrierte er den wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der CSSR, die nach 1945 noch zum Kreis der zehn stärksten Industrienationen gehört hatte. Die überholten Produktionsmethoden wirkten sich, so Hegenbart, so verheerend auf die Natur aus wie in keinem anderen Land Europas. Mit der Konsequenz, daß die Lebenserwartung der Tschechoslowaken auf „einer der niedrigsten Sprossen der europäischen Leiter angekommen“ sei. Neben niedriger Arbeitsmoral, Rauschgiftsucht und Aggressivität unter Jugendlichen zeige die Gesellschaft „Erscheinungen menschlicher und gesellschaftlicher Entfremdung“, die sich mit Sozialismus nicht in Einklang bringen ließen. Die Gesellschaft sei enttäuscht, ähnlich wie in der Sowjetunion seien Schatten- und Vetternwirtschaft entstanden, und verbrecherische Clans hätten sich das starre Leitungssystem der Wirtschaft zunutze gemacht. Die größten Hindernisse einer Umgestaltung ortet Hegenbart in „Selbstzufriedenheit, Verknöcherung und Dilettantismus“ der Partei.

Neun von zehn KPlern

wollen Glasnost

Bei alledem dürften ihm viele Parteimitglieder beipflichten. In einer geheimgehaltenen Meinungsumfrage, die die interne Geschlossenheit ausloten sollte, lehnen 70 Prozent die Methoden der Partei zur Durchsetzung ihrer Ziele ab. Ganze 8 Prozent glauben noch an eine Übereinstimmung zwischen Wort und Tat der KPC. Vor die Wahl gestellt, heute noch einmal in die Partei einzutreten, lehnt ein Drittel rundweg ab. Nur fünf Prozent halten die gegenwärtige Verfassung für zufriedenstellend, 90 Prozent wünschen mehr Glasnost. Da kann sich die Parteiführung eines leicht ausrechnen: Ließe sie sich auf eine Umgestaltung ein, wären ihre Tage gezählt. Eine Metamorphose zu Reformern nimmt ihr niemand mehr ab.