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EINFACH LEERE FLASCHEN

■ Ein surrealistischer Text über die Bilder des sowjetischen Malers Valerij Koziev, die zur Zeit in der Raab Galerie zu sehen sind

Womöglich bin ich gar kein Freund der Malerei, und die Idee dieser kurzen, anspruchslosen Bemerkungen ist vollkommen sinnlos. Womöglich bin ich auch kein Verehrer der Malerei (sondern höchstens ihr Beobachter), weil ich mir nicht vorstellen kann, wie ich mich unbewußt in etwas vertiefe, was von mir den Genuß an der Rückführung bestimmter Details zu einer bestimmten Einheit und umgekehrt fordert. Vertiefen in das Unterscheiden und Wiedererkennen und Bestimmen gewisser für mich und den Künstler bekannter Gesetze. Möglich sind auch Vorschläge anderer Art... Eine Vielzahl von Fachzeitschriften flimmert mit verlockenden Angeboten, die übrigens, wie mir scheint, mit ihrer Anziehungskraft nicht so sehr der zu beschreibenden einen oder anderen Erscheinung wie den Mitteln und Arten der Schilderung verpflichtet sind, welche nach und nach ins Reich des Unsichtbaren, Unscheinbaren, Form-losen locken.

Man kann ebenso annehmen, daß seit einiger Zeit die Malerei (nichts hindert uns daran, genauso auch über die gesamte Kunst zu denken) eigentlich zu einer absolut verbalen Kunst geworden ist, genauer gesagt zu ihrer nährenden Quelle. Beispiele gibt es viele. Doch jedes Mal, wenn ich vor irgendeiner Arbeit stehe, und es besteht keine Möglichkeit, sich ihrer Betrachtung zu entziehen - so gelangen wir von Zeit zu Zeit, von Freunden eingeladen, auf Konzerte und verharren gehorsam in Erwartung des Augenblicks, da man ein Glas Wein trinken und stilvoll über Musik sprechen kann -, jedes Mal also denke ich darüber nach, wie man sich längst bekannter Arbeiten entsinnt und feststellt, daß man im Grunde genommen mit einer unwahrscheinlichen Hartnäckigkeit immer wieder versucht, den bei der ersten Betrachtung entstandenen Eindruck zurückzurufen, gerade diesen Eindruck, der sich aus vielen Faktoren, Motiven, einem äußerst komplizierten Kontext also zusammensetzt und der offensichtlich auch das Ziel der Wiederherstellung des Genusses durch das eigene Empfinden ist.

Die Bilder schwanken

in der Zugluft wie Gehenkte

Doch kommt es auch vor, daß ich es vorziehe, eine Leinwand ganz genau zu betrachten, jene Fläche, die auf Holzrahmen gespannt ist. Manchmal betrachte ich sie an der Wand, wie es gerade kommt (diese Anmerkungen sollte man in Anführungsstriche setzen). Ich verlasse die Grenze der Fläche, auf der man mir die Arbeit weiterhin anbietet. Diese Grenzen, die immer zufälliger und folglich angemessener werden: wie ein bis zur Renovierung stehengelassenes Haus, aus dem alle Bewohner ausgesiedelt worden sind und dessen Geruch nicht von den Wänden lassen wird, auch wenn man diese gänzlich abreißen würde. Ebenso die Gegenstände, zu denen wir später noch kommen werden. Eine Ausstellung, in der Hunderte von Arbeiten in Zugluft schwanken wie Gehenkte am Galgen, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Irgend jemandes Sammlung, Haus, Regen, Leningrader Winter/Frühling/Abendmahl und so weiter, wovon man sich entfernt - flüchtig anbeschaut - aus den Augenwinkeln betrachtet - bereits von außen (ich stelle meine Tasse Kaffee weg, um die Platten nicht versehentlich zu bekleckern), durch das Glas..., immer entsteht erst später, in Vergessenheit, der Wunsch zu sehen - entweder sie, ihn, die Fläche, die Leinwand - oder es.

So hetzte ich mit Tom Rayworth durch das Russische Museum, so standen wir am Fenster, und durch den Rücken sickerte langsam Lorionovs Gelb, gemächlich mit dem Fenster zusammenfallend - das Gelb, das entweder die Konturen eines Frauenkörpers nachzeichnet - oder die Konturen einiger Freikarten, die zusammengelegt die Quadratur des Kreises ergeben - ein kompliziertes System des Hineinkippens in den Fensterzwischenraum. In den Sonnentraum.

Ein Leinwandschleier, von Riesinnen gewoben, entblößt eine Vielzahl sich zu einer Form vereinigender Pigmente, die sich zwar verkleinern, jedoch das Sichtbare nicht zu einem homogenen Kern zusammenfügen. Hier die Skizze der wirklichen Bemerkungen: „Zu Valrans Katalog: ein toter Gegenstand oder die tote Zeit oder der tote Zeitgegenstand... Die drei letzten Wörter sind alle drei dunkel. Die Stabilität ihrer Bedeutung ist duch den partiellen Ausschluß aus dem Kontext gestört. Ich werde nicht von der Malerei reden... eher von der Politik der Gegenstände.“

Eine Welt, die mit Hilfe

der Tautologie regiert wird

Die Idee der Museen bemächtigt sich mit neuer Kraft der Phantasie. Die Motive dafür sind unterschiedlicher Art. Verluste genügen nicht als Begründung. Vielleicht treibt gerade das Fehlen der Motive zum Nachdenken an, ohne daß man es sich selbst eingesteht - eine gewisse Utopie, ein verzweifelter Versuch der Aneignung, des Festhaltens der Realität. Aufgrund der Verluste entsteht das Verlustempfinden - eine Welt, die mit Hilfe der Tautologie regiert wird. Wir hatten im Russischen Museum die Arbeiten Valrans nicht gefunden - wer weiß, in welche Tiefen welcher Etage sie versunken sind, den Künstler mit einer Handvoll Rubel hinterlassend. Doch die Idee eines Museums des heutigen Rußland ist noch trauriger, obwohl sie schließlich von anderen irgendwo in Europa nicht zu unterscheiden ist.

Markt und Konsum, die zur einzigen Form menschlicher Sozialisierung geworden sind, bedeuten, daß die berüchtigte Fülle der Metaphysik durch die Geschwindigkeit der Distribution, der Ersetzung, des Ersatzgegenstandes abgelöst werden kann. Der Gegenstand (und noch einmal verspreche ich, später auf ihn zurückzukommen) ist in diesen Prozeß hineingefügt wie ein Zeichen, das eine völlig andere soziale Logik in einem eigenen Kreislauf darstellt; alles weitere bei Baudrillard über die Ent-Wertung des Gegenstandes im Gebrauch und in der Reproduktion. Es ist weder die „Szene“ noch der „Spiegel“, in deren Raum sich die „Wirksamkeit des Gegenstandes, die in seiner Hilfsfunktion besteht“, entfaltet - nach Ansicht des guten alten Heidegger (diese Funktion beruht im wesentlichen auf der Versorgung des Daseins mit Waren). Die Zuverlässigkeit des Gegenstandes, die Dauer seiner Funktion, seine Einzigartigkeit, sein Gebrauch - all das läßt eine Anhänglichkeit entstehen, die an seiner Abnutzung im Gebrauch und am Grad der „Zuverlässigkeit“ gemessen wird. So wird unser Geist periodisch in ein Spiel von sinnbildlichem Streben hineingezogen; in dem Spiel hat der Gegenstand seinen Auftritt und gestattet uns, eine der Existenzfragen an sein Spiegel-Ohr zu richten.

Der Gegenstand wird zum

Mittelpunkt durch sein

buchstäbliches Ausbleiben

Doch wenn die Wirtschaft des Westens von der gemäßigten, sicheren Akkumulation fast vollkommen zur „Wirtschaft des sinnlosen Konsums“ (Bataille) übergeht, so ist es möglich, daß auch das Stilleben sich verändert, wie eine gewisse Landschaft, eine graphische Darstellung einer solchen Logik. Und trotzdem: Was hat das alles zu tun mit dem Gegenstand in einem Rußland, das immer noch in diesem unerschütterlichen System lebt, ungeachtet aller Versuche, die Verhältnisse von träger Produktion und sträflicher Distribution zu verändern? Eigentlich liegen die Unterschiede in einem nicht unterscheidbaren Bereich: Der Gegenstand wird hier ebenfalls zu einem Machtsymbol, aber weniger im Bereich gesellschaftlicher Macht als viel mehr im ontologischen, so sonderbar das auch klingen mag. Der Gegenstand bezeichnet das einzige sinnlich wahrnehmbare Vorhandensein einer Realität in einer völlig gespenstischen Folge unendlicher „Simulationen“. Der Gegenstand wird zum Mittelpunkt der Gegenwart während seines buchstäblichen Ausbleibens, sowohl im Sinne der Realität als auch in der zeitlichen Bedeutung des „jetzt“. Doch wenn der Gegenstand eigentlich nicht vorhanden ist, entsteht mit der Einsicht, daß man ihn ja besitzen könnte (die Archive der Heimat und auf der ganzen Welt bezeugen es), und durch die Zerstörung des Austausches, eines wesentlichen Sozialisierungsprozesses (ähnlich der Entwicklung der „zurückgebliebenen“ Sprache), eine durchaus anekdotische Übereinstimmung menschlichen Verhaltens mit dem von Freud beschriebenen kindlichen Verhalten: Das Kind entzückt die Erwachsenen mit seiner Wohlerzogenheit, seiner Zurückhaltung gegenüber Mutter, die es oft alleine läßt, in Wirklichkeit stellt sich aber heraus, daß das Kind einen Faden an einer Rolle befestigt hat und diese unermüdlich unters Bett wirft, herausholt, wieder darunterwirft und so weiter. Auf diese Weise läßt das Kind die Mutter freiwillig gehen und holt sie aus eigenem Willen wieder zu sich zurück. Offensichtlich geht es hier um Macht und um die Überwindung feststehender Formen.

Ein Feld zwischen Banalität

und Unverbindlichkeit

Es ist nicht verwunderlich, daß auf die eine oder andere Art die Zerstörung - zuerst die des Gegenstandes im Stilleben selbst, dann die der Tradition, der Ordnung, der Syntax, das heißt die Zerstörung der Beziehungen, welche die Stellung des Gegenstandes im persönlichen und sozialhistorischen Bereich sowie in der Interpretation festsetzen - ihren Platz im sowjetischen Stilleben findet. Stilleben - das ist ein verlassener, das heißt mythologischer Raum. Selbst die Auswahl der Gegenstände ist solch ein schöpferischer Vorgang; nicht die Szene, sondern die Szenerie in Wechselwirkung mit der Umgebung.

Doch enthalten diese Stilleben nichts von dem, wovon ich gerade gesprochen habe... Ungeachtet des mit Wonne wiedererkennbaren Trödelkrams aus „vielbedeutenden“ Fischen, Brot und Wein stellt sich schließlich heraus, daß wir einfacher ausgedrückt - leere Flaschen betrachten, jene entleerten Symbole, die ihre Zweckmäßigkeit, ihre teleologische Bedeutung verloren haben. Und das heißt durchaus nicht Ready-made oder Illusionismus des Hyperrealismus und noch viel weniger traditioneller „Realismus“ des russischen Stillebens - genauer gesagt der Eremitagen-Mischung gewisser Holländer mit dem Wetter des zentralrussischen Flachlandes. Es handelt sich auch nicht um die Vorsehung der Metaphysiker Chirico, Morandi und so weiter. Ich kann behaupten, daß Valrans Stilleben, entgegen der scheinbaren Symbolik, überhaupt nicht allegorisch und an keinerlei Interpretation interessiert sind. Dann sind sie auch nicht ironisch. Wenn es möglich ist, sie zu bestimmen, dann nur mit Hilfe einer gewissen Vereinigung, mit Hilfe des „nicht“, dessen Häufigkeit in kurzer Zeit in ein „und“ verwandelt wird, genauer ausgedrückt in ein „zwischen“. Dies wird zum Standpunkt jedes „beliebigen“ Stillebens, wie eine Grammatik, die nichts gemeinsam hat mit der folgenden semantischen Fülle. Der Gegenstand ist das Prinzip des Gegenstandes. Die Malerei ist seine Voraussetzung. Die Leinwand ist wie ein Feld jener inneren Zusammenhalte zwischen der Banalität der Aussage und der völligen Unverbindlichkeit (analog zu meinen Anmerkungen).

Dingbilder ohne Alibi

Wir nehmen an, daß wohl genau hier der Impuls zur absoluten Kunst entspringt. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß zum Gönner einer solchen Kunst unbedingt - sagen wir mal: die „Firma Absolut“ werden will... Ihre gierigen, dahinschmelzenden Spiegel sind wiederum absolut transparent, ähnlich den beidseitig scharfen Linsen, die aus dem Klumpen des blinden Kerns herausgeschnitten worden sind. Die Grenzen überwindend, haben sie nichts gemeinsam mit der leisen Idiotie der audiovisuellen Kultur. Das Eis der Gegenstände schmilzt in den Augen. Ich passiere mit Tom lange Korridore, die unsere Schritte beschleunigen. Beiläufig denken wir nach über die Stilleben und die rätselhaften Objekte, die uns umgeben und ohne jeglichen Schmerz in ihre Poren aufsaugen.

Möglich, daß die Rede war von Jahreszeiten, vom neuen Frühling, undeutlich miteinander sprechend, ein kleines Poem zu Ehren unserer Begegnung beginnend... Ich möchte diese Zeilen zum Abschluß bringen mit einer Strophe daraus:

so thousands of worlds/ turn constantly on themselves/ not needing such alibis/ as „to think“ in the thing/ or thing in a word/ or dust in flesh/ or speak in darkness.

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