„Marienkäfer, Marienkäfer überall Marienkäfer“

■ Des Deutschen Lieblingsinsekt schwärmt in Massen übers Land

Manfred Kriener

Am schönen Ostseestrande in Warnemünde packten die Badegäste vergangene Woche in Windeseile ihre Siebensachen. Familienväter stürmten entschlossen vorweg, Kinder und Mütter um sich schlagend hinterher. Über ihnen, neben ihnen, hinter ihnen, unter ihnen flog und krabbelte in ungewohnter Stückzahl ein gar possierlich Ding, Freund aller Kinder und Deutschlands Lieblingsinsekt. Dichte Schwärme des „Zweipunkt“, einer Unterart des Marienkäfers, hatten „die DDR-Badegäste in die Flucht geschlagen“, wie die Nachrichtenagenturen meldeten. Da wurde selbst das furztrockene 'Neue Deutschland‘ poetisch: „Marienkäfer, Marienkäfer, überall Marienkäfer“, titelte das SED-Blatt.

Die Massenvermehrung war indes kein realsozialistisches Phänomen. Auch im freien Westen wimmelte es allerorten von Zwei- und Siebenpunkten, den hierzulande häufigsten Marienkäfern. Käferkundler notierten die größte Massenvermehrung seit 14 Jahren, und die Blattläuse spielten das Lied vom Tod. Sie waren allerdings selbst schuld an der Käferinvasion.

Marienkäfer ernähren sich nämlich hauptsächlich und manche Arten sogar ausschließlich von Blattläusen. Ältere Larven des „Zweipunkt“ verspeisen zum Beispiel täglich bis zu 40 ausgewachsene Blattläuse. Auch Marienkäferweibchen putzen in der Zeit vor der kräftezehrenden Eiablage schon mal zwei bis drei Dutzend der Pflanzenschädlinge weg. Die Fruchtbarkeit steht hier in direkter Abhängigkeit zum Blattlausangebot. Je praller die Speisekarte, je größer die Nachkommenzahl.

Aber nicht nur die Zahl der Eier hängt vom Blattlausaufkommen ab, sondern vor allem die Überlebenschancen der Larven. Marienkäfer sind fürchterliche Kannibalen, und wenn die Blattlausnahrung nicht in ausreichendem Maß zu Verfügung steht, fressen die Larven nichts lieber als ihre eigenen GenossInnen. Das nennt man Populationsjustierung.

Wer über Marienkäfer redet, muß also auch und vor allem über Blattläuse reden. Das Wichtigste: Blattläuse können überwintern und sichern so die Arterhaltung. In kalten Wintern haben allerdings die erwachsenen Tiere keine Chance. Dann kommen nur die Eier davon, die tiefgefroren und ungeduldig auf die warme Frühjahrssonne warten.

In diesem Jahr war nun der Winter bekanntlich besonders milde, und das Ergebnis konnten alle Balkongärtner an ihren „Fleißigen Lieschen“ und „flammenden Käthchen“ bloßen Auges erkennen. Blattläuse satt auf vielen Pflanzen (Die Ökoredaktion empfiehlt zur Bekämpfung neben Marienkäfern vor allem das Versprühen eines Suds mit „Schwarzer Krauser“ oder „Lincoln“, der allerdings nicht von allen Pflanzen toleriert wird).

Aber die Blattläuse waren nicht nur glänzend über den Winter gekommen, sie fanden auch im warmen Frühjahr und Sommer paradiesische Zustände. Merke: Je höher die Temperatur, desto schneller die Generationsfolge der Blattlaus. Bei günstigem Wetter gibts alle sieben Tage Läusenachwuchs. Nur am Rande soll hier darauf hingewiesen werden, daß die Laus das Lieblingstier des militanten Feminismus ist, weil LäusInnen ausschließlich Weibchen gebären. Nur im Herbst, bevor die sonst lebendgebährenden Tiere ihre Eier legen, dürfen auch Männchen das Licht der Welt erblicken, um diese zu befruchten.

Die Läuse fanden dieses Jahr nicht nur ein günstiges Klima, sondern auch ihrerseits einen reich gedeckten Tisch. Biologen registrierten eine ungehemmte Ausbreitung auf allen Kultur- und Nutzpflanzen. Gäbe es keine Marienkäfer und andere Feinde, dann würde eine einzige Laus übers Jahr die Nachkommenschaft von der Biomasse eines Elefanten erzeugen. Soviel zum Wesen der Laus.

Aber es gibt eben die Marienkäfer, und in diesem Jahr so viele wie selten zuvor. Sie halten die Läuse in Schach und sind deswegen die Lieblingskinder im biologischen Pflanzenschutz. Ob es die Citruskulturen von Kalifornien waren, die Kokospalmen auf Fidschi oder die Obstbäume in der Kasachischen Sowjetrepublik: Überall rettete der gezielt importierte Marienkäfer die Bestände durch seine große ökologische Potenz vor dem Läusefraß. Schon im 18. Jahrhundert wurden Vorlesungen über die Nützlichkeit des Marienkäfers gehalten, überall wurde er eingesetzt.

Giftgespritzte Kulturen, auf denen die Blattlauspopulation ein bestimmtes Minimum unterschreitet, werden allerdings vom Marienkäfer verlassen, soweit er nach der Giftdusche noch dazu in der Lage ist. Ergo: Die natürlichen Feinde fehlen, die Blattläuse können sich hier nach dem Abklingen der Giftwirkung prima ausbreiten, wodurch erneut gespritzt werden muß.

Die gezielte Züchtung des Marienkäfers wird vor allem in Japan mit gutem Erfolg betrieben. Problematisch bleibt dabei, das passende Nahrungsangebot für die Käfer zu finden. Marienkäfer fressen nämlich keine toten Läuse. Immerhin wird tiefgefrorene Läusekost gerne angenommen. In Japan allerdings hat man bei Fütterungsversuchen auch völlig neue Vorlieben des Marienkäfers entdeckt. Dort wird das Tierchen in der Zucht häufig mit kleingehackten Bienendronen gepäppelt.

Zurück nach Deutschland, wo wir uns die natürlichen Feinde der Marienkäfer ansehen. Können Sie die Massenvermehrung denn nicht stoppen? Offenbar sind die Vögel als Hauptfeinde in diesem Jahr doch stark überfordert.

Hinzu kommt, daß Marienkäfer in Vogelkreisen nicht gerade als Delikatesse gelten. Werden Marienkäfer nämlich derb berührt, fallen sie in „Thanatose“, pressen die Beine an ihre Körperunterseite und scheiden einen gelblichen, eklig schmeckenden und riechenden Saft aus. Der Käferkundler spricht von einem „Reflexbluten“. Wenn nun ein Spatz oder Fink einen Marienkäfer samt einem kräftigen Schluck Reflexblut verspeist hat, wird ihm das manchmal eine Lehre sein. Verschiedene Vogel und auch Eidechsenarten essen den Marienkäfer deshalb nur einmal und dann nie wieder. Und hier hat die auffällige Färbung des Marienkäfers, der ihn so beliebt macht, auch ihren biologischen Sinn. Sie „erinnert“ seine Feinde durch die unverwechselbare Farbstruktur gewissermaßen als „Warnfarbe“ daran, daß dieser Käfer zum Kotzen schmeckt. Vor allem Sperlinge, aber auch Spitzmäuse, Frösche und einige Eidechsenarten lassen sich dennoch nicht von einer gelegentlichen Zwei- oder Siebenpunkt-Mahlzeit abbringen. Um den diesjährigen Millionen- und Milliardenhorden Herr zu werden, müßte man allerdings schon Grizzlybären einführen. Die wurden nämlich in Kanada mehrfach beobachtet, wie sie - Thanatose hin, Thanatose her

-Marienkäfermassen im Winterschlaf mit großem Vergnügen verzehrten.

Grund für Besorgnisse wegen der diesjährigen Marienkäfermassen bestehen jedoch keinesfalls. Marienkäfer sind völlig ungefährlich, können weder stechen noch Krankheiten übertragen, und selbst ihr gelbes Sekret ist völlig harmlos. Und aufessen muß ihn ja niemand.

Herzlichen Dank an Dr.Katrin Grüber von den Grünen NRW und Dr.Wolfgang Schawaller vom Naturkundemuseum Stuttgart, die mir ihr Käfer- und Läusewissen zur Verfügung stellten.