: Eine lettische Familie im Schatten des Pakts zwischen Hitler und Stalin
■ Der Nichtangriffspakt mit dem geheimen Zusatzprotokoll ist Ausdruck des deutsch-sowjetischen Machtkalküls / Was der Pakt für die Menschen in den baltischen Staaten...
Der am 23.August 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion abgeschlossene Nichtangriffspakt war der diplomatische Schlußstein bei der deutschen Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs. Er ermöglichte der deutschen Wehrmacht den bereits geplanten Überfall auf Polen und verhinderte, daß die Sowjetunion ein Bündnis mit den westlichen Garantiemächten Polens gegen den deutschen Aggressor einging. Die Sowjetunion hatte im Sommer 39 zwei Optionen: erstens den Pakt mit dem Westen, der sie mit dem deutschen Überfall auf Polen unmittelbar in den Krieg gezogen hätte. Sie wählte die andere Option, den Nichtangriffspakt, der den Krieg mit dem Deutschen Reich um knapp zwei Jahre hinauszögerte. Doch die Sowjetunion ließ sich das Agreement mit Hitler teuer bezahlen. In dem geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt wurden die Interessensphären der beiden Mächte in Mitteleuropa abgesteckt. Neben den ostpolnischen Gebieten und Bessarabien wurden die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie Finnland dem sowjetischen Imperium zugeschlagen. Während Finnland sich dieser Abmachung im sogenannten „Winterkrieg“ widersetzte, wurden die baltischen Staaten im August 1940 in die Sowjetunion eingegliedert. Wie sich die Annexion vollzog, sucht unser Autor, Enkel eines damals deportierten lettischen Bürgers, anhand von Dokumenten aus seinem Familienarchiv nachzuzeichnen. Damit leuchtet er zugleich den psychologischen Hintergrund der baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber Moskau aus. In den baltischen Staaten wird der heutige Jahrestag zum Höhepunkt der Souveränitätskampagne. Eine von 1,5 Millionen gebildete Menschenkette wird die drei Hauptstädte Vilnius, Riga und Tallin miteinander verbinden. Die Unabhängigkeitsbewegungen wollen mit diesem Akt demonstrieren, daß sie sich mit der aus Moskau signalisierten formellen Annulierung des Paktes nicht zufriedengeben wollen.
Jahreszahlen bieten Halt, selbst dort, wo es schwerfällt, Fuß zu fassen in einem Thema, das aus persönlicher Betroffenheit grenzenlos zu werden droht...
Also die wichtigen Jahreszahlen. Das nationalsozialistische Deutschland und die UdSSR unterzeichnen am 23.August 1939 einen Nichtangriffs-, am 28.September einen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Beide Abkommen sind mit einem geheimen Zusatzprotokoll versehen, durch das Osteuropa in Interessensphären aufgeteilt wird. Die Heimat meiner Eltern, Lettland, wird zusammen mit Estland und Litauen, aber auch Teilen Polens und Rumäniens dem sowjetischen Machtbereich zugeschlagen.
Mit dem Angriff auf Polen am 1.September 1939 holt sich Hitler seine Beute. Stalin geht gemächlicher vor: Am 2. und 3.Oktober finden in Moskau Gespräche mit dem lettischen Außenminister Vilhelms Munters statt; die sowjetische Regierung wünscht mit Lettland einen Vertrag abzuschließen, der es der UdSSR gestattet, militärische Stützpunkte an der Ostseeküste zu unterhalten: „Schon Peter der Große suchte einen Zugang zum Meer...“ Der Sowjetführer versichert, die inneren Angelegenheiten Lettlands würden davon nicht berührt werden. Als Munters dennoch Vorbehalte erkennen läßt, schlägt Stalin einen deutlicheren Ton an: „Ich sage euch offen: Die Aufteilung in Interessensphären ist bereits vollzogen“, und läßt das Stichwort Polen fallen. Und weiter: „Ihr glaubt, wir wollen euch an uns reißen. Wir könnten das jetzt tun, aber wir tun es nicht.“ Am 5.Oktober 1939 unterzeichnet Lettland das Stationierungsabkommen, Estland hat bereits am 26.September signiert, Litauen folgt am 10.Oktober. Finnland gibt den sowjetischen Forderungen nicht nach, am 30.November überfällt die Rote Armee das kleine Land, der sogenannte „Winterkrieg“ beginnt.
Nach außen hin ändert sich in den übrigen Staaten zunächst kaum etwas. In der UdSSR hingegen unterschreibt ein Mitarbeiter des Kommissariats für Staatssicherheit am 11.Oktober 1939 den als „streng geheim“ klassifizierten „Befehl Nr.001223 über die Prozedur bei der Deportation antisowjetischer Elemente in Litauen, Lettland und Estland“, und im Herbst 1939 läßt der Generalstab der Roten Armee Karten drucken, auf denen die baltischen Länder als Sowjetrepubliken eingezeichnet sind. Zu solchen wurden sie allerdings erst am 3. beziehungsweise 5. und 6.August 1940.
Zuvor aber konfrontiert die UdSSR am 16.Juni 1940 Estland, Lettland und Litauen mit gleichlautenden Schreiben. Darin wird behauptet, die baltischen Staaten betrieben angeblich eine antisowjetische Politik. Sie werden ultimativ aufgefordert, neue Regierungen zu bilden, die gewillt sind, die Stationierungsabkommen „ehrlich“ zu erfüllen und zahlenmäßig unbegrenzte Truppenkontingente der Roten Armee ins Land zu lassen. Estland, Lettland und Litauen beugen sich der Übermacht und gehen auf die Forderungen ein. Schon am 17.Juni 1940 fahren sowjetische Panzer auf dem Bahnhofsplatz der lettischen Hauptstadt Riga auf.
In allen drei Republiken werden die alten Regierungen abgelöst und bereits am 14. und 15.Juli 1940 Parlamentswahlen durchgeführt. In Lettland fallen bei einer Wahlbeteiligung von 94,8 Prozent laut offiziellen Angaben 97,8 Prozent der Stimmen auf die einzig zugelassene Liste, den kommunistisch dominierten „Block der Werktätigen“. Dank einer Panne bei der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Tass‘ erfährt die übrige Welt von diesem beeindruckenden Ergebnis bereits vor Schließung der Wahllokale.
Die so zustande gekommenen baltischen Parlamente proklamieren auf ihren ersten Sitzungen die Sowjetmacht (in Lettland am 21.Juli) und beschließen, um die Aufnahme ihrer Länder in die UdSSR zu bitten - ein Wunsch, dem diese sich bekannterweise nicht verschließen mögen. Damit ist Anfang August 1940 das Mirakel einer eigenständigen „Sozialistischen Revolution“ im Baltikum endgültig vollzogen - wie die bis vor kurzem noch gültige Aussage der sowjetischen Geschichtsschreibung wissen wollte, in Lettland inspiriert und getragen von kaum mehr als 400 KP -Mitgliedern. Allerdings mußten diese zu einem großen Teil erst zu Beginn dieser Revolution aus den Gefängnissen des alten Regimes befreit werden.
Ich frage meinen Vater. „Erzähl mir bitten über deinen Vater Augusts Rozitis, was war er von Beruf, was war sein sozialer Status?“ - „Mein Vater war Bauunternehmer. Seine Firma war nicht besonders groß, vielleicht 290 ständige Mitarbeiter, für die einzelnen Bauprojekte wurden jeweils zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt, das konnten dann schon 100 und mehr sein. Er hat viele Schulen in Lettland gebaut. Überhaupt hatte er einen sehr interessanten Lebenslauf: Da seine Eltern früh verstorben waren, mußte er von früh an lernen, sich allein im Leben zu behaupten. Zu dem, was er geworden ist, ist er hauptsächlich aus eigener Kraft geworden. In der Räterepublik 1919 in Vidzeme war er sogar Mitglied eines Dorfsowjets.„
Der Betrieb meines Großvaters wird im Herbst 1940 nationalisiert, sein Besitz Schritt für Schritt in Staatseigentum überführt. Am 25.Oktober etwa wird sein PKW der Marke „Stutebacker“ („samt zehn Liter Benzin“) dem staatlichen Bau-Trust überstellt. Im Beschlagnahmeakt vom 21.Oktober werden penibel die Anzahl der Motorenzylinder („8“), die Reifennummern, das Bordwerkzeug („ein Satz Schraubenschlüssel, unvollständig“) oder die fehlende Batterie aufgezählt. Offensichtlich war der Einwand wirkungslos geblieben, den mein Großvater auf dem Dokument notiert hatte („das im Akt genannte Auto ist nicht Eigentum der Firma“).
Am 11.November 1940 tritt eine Kommission zusammen, um auch die Rechenmaschine („Firma V.T. Odner, Nr.8032, mit Schutzhülle“) aus dem Betrieb meines Großvaters in den Besitz des Bau-Trustes zu überführen. Als Mitglied dieser Kommission darf Augusts Rozitis dieses Dokument auch selbst unterzeichnen.
Ordnung ist die halbe sozialistische Revolution. Als am 21.April 1941 das Sommerhaus meiner Großeltern an der Rigaer Bucht nationalisiert wird, wird die gesamte Inneneinrichtung Stück für Stück aufgelistet, von Posten 1 („schwarzes Eichenbuffet mit zwei Türen und zwei Schubladen, 1 Stück“) über Posten 22 („Gewürzbord, 1 Stück“), 41 („Kinderbetten aus Eisen, 2 Stück“), 53 („Gardinenstangen, 17 Stück“) bis hin zu Posten 68 („Nachtschränkchen mit Marmorplatte, aus braunem Nußholz, 1 Stück“).
Und der Fortschritt der sozialistischen Revolution läßt sich an den Dokumenten ablesen, die sie an die Expropriierten verteilt: die erste Nationalisierungsakte im Herbst 1940 auf Zetteln, die aus Heften herausgerissen scheinen, oder auf blankem Papier. Für die Beschlagnahme des Sommerhauses im April 1941 gibt es dagegen schon Formblätter („Nr.2“, „Nr.4“ und „Nr.5“).
Ich frage meinen Vater: „Wie hat sich Großvater eigentlich gefühlt, als er mit ansehen mußte, daß ihm nach und nach alles genommen wurde, was er sich in seinem Leben erarbeitet hatte?“ - „Ich glaube, daß mein Vater nicht besonders am Besitz hing, dieser war für ihn nicht an sich wichtig, sondern eher als Bestätigung seiner Leistung, seiner Arbeit. Und eine Zeitlang konnte er ja im Baubereich weiterarbeiten. Doch, ich wundere mich schon ein wenig, daß er die Enteignungen nicht besonders schwer zu nehmen schien.„
Bereits gleich nach der Proklamation der Sowjetmacht in Baltikum gibt es einzelne Verhaftungen, angebliche „Feinde des Volkes“ werden von Mitarbeitern der Geheimpolizei NKWD abgeholt und kehren nie wieder zurück. Über die folgenden Monate mehren sich die Festnahmen, doch auch dies sollte nur ein bitterer Vorgeschmack auf das sein, was sich in der Nacht vom 13. auf den14.Juni 1941 in Estland, Lettland und Litauen abspielt.
In dieser Nacht werden genau nach Maßgabe des „streng geheimen Befehls Nr.001223“ allein in Lettland etwa 16.000 Menschen verhaftet und in Viehwaggons nach Sibirien abtransportiert: Beamte, Lehrer, Polizisten, Armeeangehörige, Unternehmer, Männer, Frauen, Kinder. Die in der späteren sowjetischen Geschichtsschreibung nachgeschobenen Begründung für diese Maßnahme: Stalin habe auf diese Weise verhindern wollen, daß sich hinter dem Rücken der Roten Armee bewaffnete Gruppierungen bilden, die den erwarteten Angriff Deutschlands hätten unterstützen können.
Vor mir auf dem Tisch liegt ein schmaler Papierstreifen, offensichtlich von einem größeren, in Spalten und Zeilen unterteilten Bogen abgetrennt. Rostspuren verraten, daß dieser Streifen irgendwann einmal mit Stecknadeln vermutlich an einer Schreibunterlage befestigt gewesen ist. Ich lese den russischen Text: „Rozitis, Augusts, S.d.Fricis. Großbesitzer„; in der Spalte „Ehefrau“ ist die Zahl „1“ eingetra-
gen (meine Großmutter Lidija), in der Spalte „Kinder“ die Zahl „2“ (mein Vater Ojars G. und sein vier Jahre älterer Bruder Elmars). Die Adresse: „Sarlotes-Straße 6, Wohnung 4“, die Anschrift meiner Großeltern. Der unscheinbare Streifen ist die Verhaftungsorder ihrer Familie.
Ich frage meinen Vater: „Was hast du in der Nacht vom 13. auf den 14.Juni erlebt? Weshalb wurdest auch du nicht nach Sibirien deportiert?“ - „In jener Nacht war ich zufällig nicht in Riga, sondern bei Freunden auf dem Land. Als ich am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehrte, wurde ich am Busbahnhof von den beiden Töchtern unserer Hausnachbarn erwartet. Sie berichteten mir, was in der Nacht geschehen war: Gegen drei Uhr morgens seien meine Eltern und mein Bruder abgeholt worden und zusammen mit einer größeren Anzahl von anderern Einwohnern zur Bahnstation Tornekelns gebracht worden. Wie das damals so üblich war, war auch der Hausmeister bei der Festnahme zugegen, gewissermaßen als verlängerter Arm der Sicherheitskräfte, vermutlich, um die Identifizierung der Verhafteten zu gewährleisten. Nur: Dieser Hausmeister war mein Onkel, der Bruder meines Vaters.“ - „Hat mein Großvater eigentlich damit gerechnet, daß man ihn eines Tages verhaften würde?“ - „Schwer zu sagen, ich war ja damals erst 15 Jahre alt, und Eltern achteten zu jener Zeit im allgemeinen doch schon darauf, was sie in Gegenwart ihrer Kinder sagten. Aber ich kann mich an einen Spruch meines Vaters, gewissermaßen ein Bonmot, erinnern: 'Ich habe so viel an die Sowjetmacht abgegeben, ich bin geradezu ein Musterbürger.'„
Ich frage meinen Vater. „Wie ging es für dich weiter nach dem 14.Juni?“ - „Ich blieb zunächst bei Verwandten, unsere Wohnung in der Sarlotes-Straße war ja versiegelt. Als ich aber eines Tages meine Großmutter besuchte - ihre Wohnung lag der unseren gegenüber - bemerkte ich, daß sich bei uns etwas geregt hatte. Ich klingelte an, und mir öffneten drei Mitarbeiterinnen des NKWD, die nach Belastungsmaterial gegen meinen Vater suchten.“ - „Aber erst nach der Festnahme?“ „Ja. Da sie kaum Lettisch konnten, mußten sie sich an bildhafte Darstellungen halten: Sie hatten Bücher mit einem General und Admiral auf dem Umschlag beseite gelegt. Sie gestatteten mir aber, einige Sachen aus der Wohnung mitzunehmen. Das vielleicht kurioseste Erlebnis dieser Tage: Mein Onkel, der Hausmeister, hatte - Ordnung muß sein - dem NKWD tatsächlich gemeldet, daß ich in Riga aufgetaucht sei und daß man mich jetzt abholen könne. Man stauchte ihn aber zusammen: Man wisse selbst, wer zu welchem Zeitpunkt zu verhaften sei, er möge sich scheren. Völlig verschreckt kam der pflichtbewußte Mann daraufhin zu mir gelaufen und berichtete mir alles.“ - „Und wie hat dich die Festnahme deiner Familie berührt?“ - „Vielleicht gar nicht so emotional, wie man sich das vorstellen könnte. Ich überlegte beispielsweise ganz nüchtern, was ich aus unserer Wohnung verkaufen könnte, um meiner Familie Geld nach Sibirien schicken zu können. Und du mußt bedenken, wie alt ich damals war: Für einen Jungen in der Pubertät ist die Abwesenheit jener Personen, die sein Leben bislang bestimmt haben, gewiß ein aufregendes Erlebnis, so schrecklich das im Hinblick auf die damaligen Umstände auch klingen mag.„
In Punkt 5 des „streng geheimen Befehls Nr.001223 über die Prozedur bei der Deportation antisowjetischer Elemente in Litauen, Lettland und Estland“ ist angeordnet, daß bei der Verhaftung die arbeitsfähigen Männer von ihren Familien zu trennen seien. So kommt mein Großvater Augusts Rozitis in das Lager von Soljikamsk (in der Gegend von Perm), wo er bei schweren Waldarbeiten eingesetzt wird, während seine Frau Lidija und Sohn Elmars im Dorf Narim in Rayon Parabelj (bei Tomsk) zwangsangesiedelt werden.
Neben der bereits vergilbten Festnahmeorder liegt vor mit auf dem Schreibtisch das in Riga erscheinende Kulturwochenblatt 'Literatura un Maksla‘, die Ausgabe vom 10.Juni 1989, die dem Gedenken an die Opfer der Verschleppungen vom 14.Juni 1940 gewidmet ist. Auf den Seiten 11 bis 13 ist eine Liste von insgesamt 288 Namen abgedruckt: Männer, die zwischen 1941 und 1942 in dem Lager von Soljikamsk gestorben sind. Eine Sanitäterin, die die Haft in diesem Lager überlebt hat, hatte die Namen auf kleinen Papierzetteln notiert und bei ihrer Rückkehr nach Lettland 1956 mitgebracht. Die Eintragung Nr.219 lautet: „Rozitis, Augusts, S.d.Fricis, Riga, Sarlotes-Straße 6, Wohnung 4. 1892-20.12.1941“. Ich sehe mir noch einmal das Foto meiner Großeltern an: Augusts Rozitis ist ein stattlicher Mann, bei seiner Festnahme noch keine 50 Jahre alt - und doch ist er nach kaum sechs Monaten Haft gestorben.
Meine Großmutter Lidija hingegen wirkt zierlich - und doch hat sie in den unwirtlichen Verhältnissen ihrer sibirischen Verbannung nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihren Sohn Elmars zu sorgen. Beide überleben trotz schwerer Arbeitsbedingungen und Anfeindungen der einheimischen Bevölkerung, trotz ewiger Kälte und Hunger, gefesselt an einem Ort. Eine Bescheinigung vom 1.Februar 1951 weist Elmars Rozitis als „Sondereinwohner“ von Narim aus, dem es nicht gestattet ist, das Dort zu verlassen.
Überleben und neues Leben... In der aufgezwungenen Fremde heiratete Elmars 1947 Lauma Misima, die in derselben Nacht vom 13. auf den 14.Juni 1941 aus Lettland deportiert worden ist; in Sibirien kommen auch Tochter Inga und Sohn Girts zur Welt. Zusammen mit meiner Großmutter Lidija kehrt die Familie 1957 in ihre Heimat zurück.
Das Jahr zwischen dem Einmarsch der Roten Armee nach Lettland am 17.Juni 1940 und jener Nacht der Massenverschleppung von 1941 - der Volksmund hat es das „Jahr des Schreckens“ getauft. Die furchtbare Bilanz dieser Monate: an die 34.000 Letten gefoltert, getötet, nach Sibirien abtransportiert.
Diese kollektive Erfahrung ist der Boden, in dem das Mißtrauen der lettischen Bevölkerung gegen die Moskauer Zentrale noch heute wurzelt. Und es ist von mehr als symbolischer Bedeutung, daß am Anfang der demokratischen und nationalen Reformbewegung im heutigen Lettland eine Demonstration steht, mit der am 14.Juni 1987 zum ersten Mal öffentlich der Opfer des Stalinterrors gedacht wurde.
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