: Ein Land unter vier Fahnen
Der Dramatiker Pavel Kohout über den ersten Besuch nach 68 in Budapest ■ R E P O R T A G E
„Herzlich Willkommen!“ strahlt der Mann an der Rezeption von Budapests größtem Hotel einen Gast an, den er noch nie gesehen hat. „Sie bekommen unser schönstes Zimmer, damit Sie das heutige Feuerwerk genießen können!“
„Grotesk!“ ruft der Kapitän von Deutschlands größtem Donaukreuzfahrtschiff dem Passagier vom Vorjahr entgegen, als dieser über den Budapester Zollsteg zu Besuch kommt; im August 1988, bei dem Versuch, von jenem Schiff ungarisches Festland zu betreten, wurde er samt Frau an Bord verbannt und das Wasserfahrzeug zwei Tage lang scharf bewacht.
Der Mann, der bis vor kurzem in Ungarn als höchst unerwünscht galt, weil es die Verbündeten in Prag verlangten, bin erfreulicherweise ich. Ich kehre nach Jahren offiziell in die Stadt zurück, in der ich einst ein viel gespielter Dramatiker und später Unperson war.
Kurz nachdem ein Feuerwerk über Buda zu Ende geht, dem Hunderttausende zuschauten, denn der 20.Augtust ist nach Jahrzehnten kein „Brotfest“ mehr, sondern, wie früher, ein Gedenktag für den Heiligen Stephan, beginnen die Gedenkstunden an das gewaltsame Ende des „Prager Frühlings“ 68.
Auf dem Budapester Boulevard flattert auf einem Staatsgebäude die offizielle Fahne mit dem verzierten roten Stern; links davon eine ohne, auf dem rechten Nachbarhaus eine mit der Stephanskrone; dazu weht auf dem Friedhof der hingerichteten Aufständischen von 1956 eine Fahne, in der ein Riesenloch klafft - eine Nachbildung jener, die vor 33 Jahren eiligst ausgebessert worden war.
„Welche ist gültig?“ frage ich den evangelischen Pfarrer Ruttkay Levente, einer der Integrationsfiguren der schnell auseinanderdriftenden Opposition. „Jedem die seine“, sagt er, „vorläufig.“
Dieser ungarische Sommer ähnelt verblüffend dem einstigen Prager Frühling. Alle hoffen - und niemand weiß genau, worauf. Nach Jahrzehnten gibt es plötzlich keine tabuisierte Frage mehr, und Menschen saugen Informationen auf wie Verdurstende Flüssigkeit, egal was, nur trinken muß man.
In dem überfüllten Kinosaal Vörösmarty, der zum Treffpunkt der Opposition wurde, stellt mir der populäre Schriftsteller György Konrad, dessen noch unlängst verbotenes Buch „Der Mitschuldige“ bereits eine Auflage von 70.000 übersteigt, minuziöse Fragen: Er versucht, den Ablauf des tschechoslowakischen Jahres 1968 auch mit den Sinnen zu erfassen, bis zu jenem tragischen Ausgang, an dem das offizielle Ungarn mit Panzern teilnahm.
Das Publikum reagiert, als wäre es ein Theaterstück, was ich da erzähle, es hält den Atem an, es seufzt, es lacht und es ruft: „Eljen!“ wenn von der Charta 77 die Rede ist, „Schande!“ wenn der August-Überfall zur Sprache kommt, und wird noch lauter, als die Nachricht eintrifft, daß man auf dem Prager Wenzelsplatz zur Stunde erneut mündige Bürger zusammenschlägt. Später stößt ein zweiter Prager zu mir auf die Bühne, nach Jahren begegnen sich Lebenswege zweier Freunde wieder, die sich als Sechzehnjährige gemeinsam an der bewaffneten Befreiung Prags von den Nazis beteiligt hatten und dann als junge Kommunisten im Rundfunk den Sieg ihrer Träume verkündeten, die bereits verraten worden waren. Auch von dem Schock der fünfziger Jahre erzählen wir, der uns ziemlich früh innerhalb der Partei in die Opposition brachte, und dann, nach unserem Hinauswurf, in die echte.
Das vorletzte Mal sah ich Karel Kyncl, der jetzt längst für BBC London tätig ist, als er in Prag in Handschellen zu seinem Prozeß geführt wurde, und ich, der damals bereits Verfemte, ihm zuwinken wollte.
„Wie sollen wir uns am vernünftigsten verhalten?“ will ein Vertreter der radikalsten Gruppierung FIDESZ wissen - liebe Radikale, die noch so höflich fragen!
„Am besten“, antworten wir, „wenn Sie nicht die Verlierer um Rat bitten.“ So sehr man sich in diesem rotgrünweißen Sommer wie damals in dem rotweißblauen Frühling fühlt, es gibt tausendundeine Absonderlichkeit und kein Rezept. Man kann nur bangen, wenn man die überwiegend jungen Menschen hört, wie sie - noch immer ein wenig über die eigene plötzliche Kühnheit erstaunt - immer ungeduldiger werden, wie sie zunehmend individuelle Splitterwege anschneiden: eine Reaktion auf alles, was nach Mehrheit, Einheit oder auch nur Kollektiv riecht. Eine echte Chance für jeden Gegner, der zwar im Großen versagt hat, die Kunst der Macht jedoch nach wie vor gut beherrscht.
Einer von ihnen saß Sonntag nachts in jener TV-Runde, die mit mir eine Stunde lang live über das kurze Dubcek-Jahr und die unendliche Husak/Jakes-Geschichte sprach. Der junge Mann aus der Auslandsabteilung der KP wirkte etwas verkrampft und seine Formulierungen litten am alten Vokabular. Seine Botschaft jedoch war klar - Distanzierung von der Invasion, auch in den höchsten Gremien der Partei. Ich glaubte ihm, sah ich mich in ihm doch selbst vor einundzwanzig Jahren. Sein Glück: Er braucht keine fremden Panzer mehr zu fürchten. Sein Problem: Die eigenen sind noch nicht endgültig unter der Befehlsgewalt der Demokratie.
„Sind Sie ein solcher Pessimist?“ rügt mich der feurige Pfarrer. „Aus einem gebrannten Kind soll ein gescheiter Mensch werden, der zweimal Verbrannte ist selbst schuld...!“
Die Zerreißprobe der Opposition, wollen alle wissen, stünde kurz bevor, ein Streit darüber, ob man dem Wunsch der KP nach Einführung des Präsidialsystems folgen soll. Nach Gorbatschow und Jaruzelski will nun Poczagay der Dritte sein, der „nach dem westlichen Muster“ den Präsidenten aller Ungarn stellen soll, mit allen Vollmachten ausgestattet, die sich leider nach östlichem Muster im Fall der Fälle verselbständigen können, vom Recht bis zum Kriegsrecht.
„In keinem Fall!“ warnen die Einen. „Ein notwendiger Kompromiß!“ behaupten die Anderen, „wenn man nicht Gorbatschows Feinde auf den Plan rufen will!“ Die Zwei aus Prag glauben es auch, schweigen jedoch; sie haben sich schon einmal folgenschwer geirrt. Es ist die einzige Art der Nichteinmischung, die sie gutheißen.
Sie baden dafür gern in der allseitigen Sympathie, die dem verlorenen Prager Frühling entgegenschlägt. Sie sind gerührt zu hören, daß jene acht Monate mühelos einundzwanzig Jahre Lügen überlebten und heute erst recht anstecken, vor allem durch ihre wichtigsten Werte: Toleranz und Anständigkeit. Und sie sind in Verlegenheit, wenn man sie fragt, warum denn die Verbindung der tschechischen und polnischen Opposition so wunderbar funktioniert, während die direkten Nachbarn Ungarns, die Slowaken, auf kein Signal reagieren. Nach einer kurzen Andacht über die positiven und negativen Auswirkungen des Nationalismus - er kann fremde Käfige sprengen, sich aber auch eigene bauen - bitten wir nach vier Stunden um Entlassung aus dem Saal.
Im alten Lokal „Zur roten Postkutsche“ war György Konrad lange Jahre nicht, wird jedoch sofort vom Personal erkannt, und wir alle dürfen an der Bewunderung des Küchenchefs mitnaschen... wie sollte ich nicht an das Karlsbader „Pupp“ denken, wo mich im Juli 1968 nach Sperrstunde Kellner und Köche bis zum Morgengrauen mit Getränken versorgten, um mit mir über Politik zu diskutieren.
Der Schnee von gestern ist nicht geschmolzen, sondern glitzert wieder auf den glühenden Straßen von Budapest, wo verlegen lächelnde Polizisten - es ist verdammt schwer, vom Feind und Prügler auf Freund und Helfer umzuschalten! - an illegalen Spitzenverkäuferinnen vorbeiblicken.
Im einst so stolzen, heute nur noch schmutzig-stinkenden Orient-Expreß, überfüllt von todmüden, aber glücklichen Rumänen, die aus dem letzten Hort des Wahnsinns-Kommunismus auswandern durften, nähert sich mir die ungarische Grenzkontrolle. Viermal haben sie mich in den letzten zehn Jahren mürrisch des Landes verwiesen. Als erfahrener Politverbrecher hatte ich nie das kleinste Stück beschriebenen Papiers bei mir. Jetzt verfasse ich, meine kleine Schreibmaschine auf den Knien, diesen Bericht. Ich fühle mich wie in Gottes Schoß, solange die vier verschiedenen Fahnen gleichzeitig wehen dürfen. Der Offizier liest meinen Namen und runzelt die Stirn.
„Nur zwei Tage?“ fragt er besorgt, „hat es Ihnen denn bei uns nicht gefallen?“ „Nichts während der letzten einundzwanzig Jahre gefiel mir besser!“ antworte ich aus tiefstem Herzen.
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