: Vom Wert des Gewissens
Der Weg des Wehrmachtsarztes Erich K. zwischen Desertation und Selbstverstümmelung / Vergangenheitsbewältigung im Spiegel bundesdeutscher Rechtsprechung ■ Thomas M. Ruprecht
„Hier steht nur die Macht gegen die Ohnmacht, und da wir auf der Seite der Ohnmacht stehen, können wir nur rebellieren oder resignieren. Mit juristischen Mitteln ist hier nichts zu machen.„ Die „Aktionsgemeinschaft der deutsche
Rechtsanwälte“ 1968 über den Fall Erich K
Hart bricht der Winter über das unvorbereitete Lazarett herein. Bereits im November fällt die Temperatur auf minus 40 Grad. Während die Kranken teilweise nur halb bekleidet über spiegelglatt gefrorenen Urin und Kot zu den überfüllten Latrinen balancieren müssen, stapeln sich die Leichen in den umliegenden Hütten der einheimischen Bevölkerung.
Immer mehr Kältekranke werden angesichts der Kriegsereignisse bei extremen Temperaturen eingeliefert. Winterkleidung gibt es keine. Um Platz zu schaffen, werden Anfang Januar 1942 auch die letzten noch lebenden russischen Geisteskranken vergast, die Bevölkerung in der Umgebung evakuiert, vertrieben. Dennoch reicht die Bettenzahl nicht. Jede neue Einweisung ist schließlich nur noch durch die Entlassung einer entsprechenden Anzahl von Patienten zu bewältigen. Die Betroffenen werden schlecht bekleidet zurück an die Front geschickt, für die meisten der sichere Untergang. Verzweiflungsszenen spielen sich ab. Erich K. hat als Unterarzt den Befehl, die Namenslisten zusammenzustellen: eine Entscheidung über Leben und Tod. Zur selben Zeit hört er Kollegen von Massakern an Zehntausenden von Juden in der Umgebung berichten. Bereits in schwerem Gewissenskonflikt wegen seiner ärztlichen Tätigkeit, ist er endgültig vom verbrecherischen Charakter des Krieges und der nationalsozialistischen Herrschaft überzeugt und sinnt über Möglichkeiten nach, der Situation zu entrinnen. Aus Rücksicht auf Frau und Kinder zu Hause beschließt er, „nur“ dienstunfähig zu werden. Ab dem 8.Dezember 1941 nimmt er nur noch Äpfel und Wein zu sich und erklärt, nichts anderes mehr zu vertragen.
Der Plan gelingt. Erich K. verliert in sieben Wochen 25 Kilogramm Gewicht, wird schließlich als medizinisches Kuriosum ins Reservelazarett „Weißer Hirsch“ bei Dresden zurückverlegt und dort nach allen Regeln der diagnostischen Kunst untersucht. Schließlich wiegt er nur noch 42 Kilogramm, zum Skelett abgemagert. Als er durch die Landesversicherungsanstalt einem ausgeklügelten Hörtest unterzogen werden soll, glaubt er sich bereits entlarvt, kann die Prüfer jedoch erfolgreich täuschen und besteht den Test.
Für „absichtlich“ zugefügte Schäden gibt es nichts
Als schließlich schwere Hungerödeme auftreten und ein plötzlicher Tod nicht mehr auszuschließen ist, wird Erich K. wegen „Wehrdienstbeschädigung“ mit der Verlegenheitsdiagnose „perniciöse Anämie mit funiculärer Myelitis“ und „Schwerhörigkeit“ nach Hause entlassen, mit einer kleinen Versehrtenrente von 45 RM monatlich.
Nach einer langwierigen, teilweisen Wiederherstellung seiner Gesundheit läßt er sich im Mai 1943 auf seiner früheren Stelle als dermatologischer Assistenzarzt dienstverpflichten. Seine Familie macht ihm Vorwürfe wegen seines Verhaltens, der Schwager verbietet ihm das Haus, als Erich K. Hitler einen Verbrecher nennt. Die für ihn zuständige Ärztekammer stuft ihn als „verdächtige Person“ ein, als er sich zwei weiteren Dienstverpflichtungen einfach verweigert.
Im Frühjahr 1943 treten plötzlich immer stärker werdende Rückenschmerzen auf, die im Landeskrankenhaus in Prag einer fortschreitenden Osteoporose (Knochenentkalkung) zugeordnet werden. Schon kleine Unfälle, Möbelrücken, Hinfallen haben Rippenbrüche zur Folge, die nur langsam ausheilen. Eine 80prozentige Erwerbsminderung wird anerkannt.
Dennoch kann sich Erich K. im Herbst 1944 als selbständiger Hautarzt niederlassen. Nach dem Krieg gründet Erich K. trotz immer stärker werdender Beschwerden durch die Osteoporose in Wesel erneut eine eigene Praxis, um die Familie zu ernähren; die Kriegsbeschädigtenrente nimmt er nicht in Anspruch, weil er glaubt, sie nicht zu benötigen.
Doch die Knochenschmerzen in der Nacht rauben ihm den Schlaf, führen zu Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Die folgenden Jahre sind geprägt durch zahlreiche Knochenbrüche, durch Krankenhausaufenthalte und Verdienstausfälle. 1961 muß Erich K. seine Praxis aus gesundheitlichen Gründen verkaufen und seinen Beruf aufgeben.
Zwei Jahre zuvor hatte er vorsorglich beim Versorgungsamt Duisburg einen Antrag auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gestellt, das die Entschädigung Kriegsversehrter regelt. Bei der amtsärztlichen Untersuchung schildert er wahrheitsgemäß die wahrscheinliche Ursache seiner Osteoporose: seinen Hungerstreik 1941/42. Das sollte sich jedoch als entscheidender Fehler entpuppen: Zur großen Überraschung und Enttäuschung wird der Rentenantrag mit Bescheid vom 5.Februar 1962 abgelehnt. Nur Schäden im Zusammenhang mit der „Pflichterfüllung“ werden nach Paragraph 1 des BVG anerkannt.
Da sich Erich K. die Schädigung jedoch absichtlich zugefügt habe, sei nach dem Bundesversorgungsgesetz kein Anspruch auf Unterhaltsleistungen gegeben. Zu gut deutsch: Der Hungerstreik war „Selbstverstümmelung“, obwohl die Knochenkrankheit nicht gezielt herbeigeführt wurde. Und Selbstverstümmler gehen in der Bundesrepublik nun einmal grundsätzlich leer aus.
Nun beginnen 20 Jahre Spießrutenlauf zwischen Gutachtern, Gerichten, Anwälten, im Paragraphendschungel bundesdeutscher „Wiedergutmachung“, bei kümmerlichen wirtschaftlichen Verhältnissen und sich verschlimmernder Krankheit.
Erste Station: Antrag auf „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“, um trotz abgelaufener Fristen nach dem Bundesentschädigungsgesetz einen Rentenanspruch zu erwerben. Andererseits klagt er vor dem Sozialgericht Köln gegen die Entscheidung des Versorgungsamtes. Vertreten wird er durch den Vorsitzenden der „Deutschen Liga für Menschenrechte“, Dr.Georg Meinecke in Köln.
Eine Zwangslage
habe nicht bestanden
Doch auch hier kein Erfolg. Die Sache geht in die nächste Instanz: Landessozialgericht in Essen. Wieder wird ihm bescheinigt, aus Drückebergerei gehungert zu haben: Es habe für ihn keine Notwendigkeit bestanden, in den Hungerstreik zu treten, hieß es in der Urteilsbegründung vom 19.November 1965 (AZ L 6V113/64), er hätte ja um Versetzung bitten können oder den Befehl zur Gesundschreibung einfach nicht ausführen müssen, es wäre ihm sicher nichts passiert. Ein Gutachten der Bundesärztekammer dazu wird für überflüssig erklärt, denn „es steht für das Gericht außer Zweifel, daß kein deutscher Militärarzt gegen sein Gewissen und gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu Behandlungsmaßnahmen an Soldaten gezwungen werden konnte“.
Von „offensichtlichem UnrRecht“ könne bei der von Erich K. verlangten Tätigkeit ohnehin nicht die Rede sein. Kein „Befehlsnotstand“, keine „unausweichliche Zwangslage“ im Sinne des BVG also, sondern angeblich pure Freiwilligkeit im Gesundschreiben wie im Hungern. „Selbst dann aber, wenn Anordnungen vorgelegen haben sollten, welche das ärztliche Gewissen des Klägers belastet hätten“, so jene Juristen weiter, „wäre (...) die freie Willensbildung nicht eingeschränkt worden“. Mit anderen Worten: Jene Zwangslage zwischen militärischen Pflichten und ärztlichem Ethos sei Erich K.s Einbildung, das Hungern in jedem Fall „freiwillig“ (für die Folgen gibt's nichts). Wer damals seine Pflicht tat und dabei zu Schaden kam, bekommt auch später Geld; wer seine Mitarbeit verweigerte, geht leer aus - eine besondere Art der Gerechtigkeit nach der systematischen Vernichtung aller Abtrünnigen, den über 30.000 Todesurteilen gegen Deserteure und Wehrkraftzersetzer im Dritten Reich. Der „Hungerstreik“ sei auf alle Fälle die falsche Methode gewesen, hatte bereits das Kölner Sozialgericht befunden. Wenn er auf andere Art Widerstand geleistet hätte, wäre das Leiden nicht aufgetreten. Natürlich nicht. Das hätte ihm höchstwahrscheinlich den Kopf gekostet...
Die Sache verursacht in der Presse einigen Wirbel. Selbst im New Yorker 'Aufbau‘ erscheint am 10.September 1965 ein längerer Artikel des bekannten Autors und Publizisten Kurt Grossmann, früher Freund Carl von Ossietzkys und Sekretär der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ Ende der zwanziger Jahre.
Schließlich geht der Fall K. in Revision vor dem 8. Senat des Bundessozialgerichts, wegen der „grundsätzlichen Bedeutung des Komplexes“. Kurz vor Weihnachten 1966 die „bewährte“ Argumentationsschiene noch einmal (AZ 8 RV101/66): Der Kläger habe „bei klarem Verstand“, „ohne in der freien Willensbestimmung durch Umstände eingeschränkt gewesen zu sein, die auf den Wehrdienst zurückzuführen“ waren, die „Hungersabotage“ (!) begonnen, um „dienstunfähig um jeden Preis“ zu werden und seine Entlassung aus dem Wehrdienst zu bewirken. Ihm sei seitens seiner Vorgesetzten in keinem Falle der Befehl gegeben worden, in jene Listen auch Soldaten einzutragen, die noch nicht wieder dienst oder entlassungsfähig waren. Selbst ein Härteausgleich wird abgelehnt, wegen der „Absichtlichkeit“ der Schädigung.
Appelle an den Bundestag verhallen
Inzwischen war auch sein Antrag auf „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ im Rahmen des Entschädigungsgesetzes abschlägig beschieden worden, durch alle Instanzen: Landgericht Köln, Oberlandesgericht Düsseldorf, Bundesverwaltungsgericht Berlin. Man hielt ihm vor, die gesetzlichen Fristen selbstverschuldet versäumt zu haben; er hätte sich als gelernter Jurist besser erkundigen müssen, statt sich auf seinen Anwalt zu verlassen. Außerdem habe er ja in der Nähe einer Entschädigungskammer gewohnt (100 Kilometer entfernt). Im übrigen sei er ohnehin kein Verfolgter des Naziregimes, habe auch keinen „aktiven Widerstand“ geleistet, daher auch keinerlei Ansprüche. Pech für Erich K.: Hätte man ihn zum Beispiel entlarvt und inhaftiert, gefoltert oder sonstwie geschädigt, hätte er einen Anspruch geltend machen können - im Falle des höchst unwahrscheinlichen Überlebens.
Erich K. wendet sich schließlich an das Bundesverfassungsgericht, jedoch vergeblich - just zur selben Zeit, als dessen Senatspräsident Oskar Haidinger in die Schlagzeilen gerät ob seiner glühend antisemitischen „Chronik des Land- und Amtsgerichts Litzmannstadt“ von 1942.
Erich K. appelliert schließlich Anfang der siebziger Jahre an die Petitionsausschüsse in Land- und Bundestag - umsonst; an Herbert Wehner - umsonst; an die Europäische Menschenrechtskommission in Straßburg - umsonst (der Fall liege zu weit zurück). Bundespräsident Heinemann - um Intervention gebeten - bietet ein Almosen von 3.000 Mark aus einem „Hilfsfonds“ an, Erich K. lehnt jedoch ab.
Er lebt heute noch mit seiner Frau in der Nähe von Köln, 92 Jahre alt, schwer von seiner Krankheit gezeichnet. Den Glauben an die „Ehrlichkeit“ der bundesrepublikanischen Demokratie hat er längst verloren, die Festtagsreden auf die Freiheit des Gewissens und die Heuchelei der Gedenktage sind ihm zuwider. Die „Hoffnung auf Gerechtigkeit“ hat er jedoch immer noch nicht ganz aufgegeben. 1988 wandte er sich erneut an den Bundestag und alle dort vertretenen Parteien. Wieder erntete er nur bedauerndes Achselzucken und Absagen. Wo juristisch nichts mehr zu machen sei, habe auch das Parlament keine Möglichkeiten...
Der Arzt Thomas M. Ruprecht ist im Rahmen medizinhistorischer Studien am Institut für Geschichte der Medizin (Freiburg) auf den „Fall Erich K.“ gestoßen. Der Bericht beruht auf einem Interview mit dem einstigen Kriegsdienstverweigerer.
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