: Hitler und Stalin sind's gewesen, wir nicht
■ Historiker im Reichstag, 50 Jahre nach Kriegsbeginn
Wolfgang Dreßen
Zwischen dem 21. und 23.August versammelten sich in Berlin im Reichstag fast 100 Historiker aus fast allen am Krieg beteiligten Staaten zu einer „Internationalen Konferenz“.
Schirmherrin war Rita Süssmuth. In ihrer Eröffnungsrede machte sie gleich deutlich, um was es gehen sollte: „Hitler und das nationalsozialistische Regime haben den Zweiten Weltkrieg verschuldet, Hitlers Machthunger, sein verbrecherischer Rassenwahn und sein fanatischer Wille, Deutschland sogenannten 'Lebensraum‘ zu erkämpfen...“
Also Hitler war's gewesen. Die versammelten Historiker werden dann ihre Schulaufgaben noch besser machen als verlangt: Selbst das „Regime“ werden sie über dem „Führer“ vergessen.
Und dann fand Frau Süssmuth auch noch erstaunliche Worte zur bundesdeutschen Geschichte: „Unsere Politik“ sei „in diesen vier Jahrzehnten (...) davon bestimmt“ gewesen, aus der Zeit des Nationalsozialismus „Konsequenzen zu ziehen“.
Sicher, wenn Hitler der Schuldige war, und der war ja nun tot, dann waren die deutschen Richter, Beamten, Professoren, Industriellen, Ärzte, Offiziere usw. usw. unschuldig. Befreit vom Bösewicht, konnten sie mit dem „Wiederaufbau“ beginnen.
Nach diesen einstimmenden Worten der Bundestagspräsidentin fing die Weißwäsche der Geschichte an. Diese Aufgabe war vor allem den deutschen Professoren zugedacht. Der wichtigste dieser Weißwäscher ist zur Zeit Herr Professor Eberhard Jäckel aus Stuttgart. Seine wissenschaftliche Leistung besteht darin, jede Äußerung Hitlers von der Wiege bis zur Asche zu dokumentieren. Wie jeder Forscher nimmt auch dieser Professor seinen Forschungsgegenstand besonders ernst: Hitler ist für ihn der alles und alle überragende Dämon.
Was hatte der Führerforscher jetzt im Reichstag zu sagen? Hitler hat den Krieg „entfesselt“, „von Hitler allein“ wurde Deutschland „auf diesen Weg gestoßen“, obwohl „es sich dagegen sträubte“. Sogar „die militärische und politische“, „gar die wirtschaftliche Führungsschicht“ hat den Krieg nicht gewollt. Es war nicht „Deutschlands Krieg“, es war „Hitlers Krieg“.
Überwältigt von seinem Forschungsgegenstand, hielt sich Jäckel gar nicht damit auf, die Forschung, die zu ganz anderen Ergebnissen kommt, zu widerlegen. Vielleicht hat er sie gar nicht gelesen? Selbst die Akten der Nürnberger Prozesse scheint dieser Historiker nicht zu kennen.
Jäckel berief sich immer wieder auf das Zögern einiger Militärs. Dieses Zögern richtete sich aber nicht gegen den Krieg selber. Gefürchtet wurde nur eine Wiederholung des Zweifrontenkrieges aus dem Ersten Weltkrieg. Mit den ersten Erfolgen in Polen, erst recht nach der Besetzung Frankreichs schwand dieses Zögern dahin. Ähnlich war es bereits bei der Besetzung des Rheinlandes, beim Anschluß Österreichs, beim Überfall auf die Tschechei gewesen. Diese militärischen „Pazifisten“ waren nicht gegen den Krieg, sie wollten ihn nur nicht verlieren.
Und in Polen fielen diese Militärs nicht etwa widerwillig ein. Sie beteiligten sich am Ausbeutungs- und Vernichtungsfeldzug, der er von Anfang an war. Bereits vor dem Angriff auf Polen, im Juli 1939, war zwischen dem Chef der Sicherheitspolizei und dem Oberbefehlshaber des Heeres vereinbart worden, jeder Armee eine Einsatzgruppe zuzuordnen. Der Chef des Generalstabes, General Halder, war schon zu Beginn des Krieges darüber informiert, daß diese Einsatzgruppen Polen von „Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel“ „säubern“ sollten. „Flurbereinigung“ hieß das. Mit Wissen der Armee, unter ihrem Schutz, auch mit ihrer direkten Beteiligung begannen schon gleich nach dem Einmarsch die Massenmorde (bis zum Oktober bereits über 20.000 Menschen), die Zwangsumsiedlungen, die Ghettoisierung der Juden.
Besonders die „wirtschaftliche Führungsschicht“ wurde von Jäckel in Schutz genommen. Es ist fast müßig, daran zu erinnern, wer die Aufrüstung organisiert hatte, die den Krieg erst ermöglichte. Und wer hat an dieser Aufrüstung verdient? Und wo blieb die friedliebende „wirtschaftliche Führungsschicht“ beim Einmarsch in Österreich, in die Tschechei und jetzt in Polen? Sie folgte der Armee buchstäblich auf dem Fuß, um die jüdische, tschechische oder polnische Kriegsbeute zu verteilen. Schon während der ersten Kriegswochen wurden polnische Zwangsarbeiter nach Deutschland transportiert, um in den Betrieben der „wirtschaftlichen Führungsschicht“ die Profite zu erhöhen (bis Oktober bereits über 200.000 Menschen).
Daran verdienten allerdings nicht nur die Wirtschaftsführer. Aus dem Bericht eines polnischen Zwangsarbeiters vom Februar 1940: „Es waren Bauern, die hierher gekommen waren, um sich die gelieferte menschliche Ware anzusehen, um jemanden zu kaufen oder zumindest zu handeln, und so packten sie sich taxierend die ihnen gelieferten Sklaven ein.“
Wolfgang Wippermann war der einzige auf der Konferenz, der Jäckel in einem Diskussionsbeitrag widersprach: Er bezeichnete den Zweiten Weltkrieg als einen „ökonomischen Rassenkrieg“ und schon deshalb auch als einen „Krieg der deutschen Professoren“. Die im Reichstag anwesenden Professoren hielten bei einer solchen unpassenden Äußerung (in Gegenwart der Bundespräsidentin!) den Atem an. Jäckel war hierdurch nicht zu erschüttern. Er meinte zu Wippermann nur, so wörtlich: „Thema verfehlt, Herr Kollege.“
Wippermann wies außerdem noch auf die „Forschungen jüngerer Kollegen“ hin, die über diesen Zusammenhang gearbeitet hätten. Ich denke, Herr Professor Jäckel hat sie nicht gelesen. Deshalb ist ihm auch nicht aufgefallen, daß auf den 1.September, Tag des Einfalls in Polen, ein Erlaß Hitlers datiert ist, der dazu ermächtigt, „unheilbar Kranke“ umzubringen. Geschrieben wurde dieser Erlaß im Oktober, aber Hitler hat ihn auf den Kriegsbeginn zurückdatiert, den Beginn der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ jetzt in fast ganz Europa.
Die „Euthanasie“ war von deutschen Professoren schon vor dem Ersten Weltkrieg gefordert worden. Dieser Massenmord wurde von ihnen seit langem vorbereitet. Er begann bereits mit der oft tödlichen Sterilisierung der „Minderwertigen“ seit 1933. Keineswegs waren die deutschen Professoren hier Hitler gefolgt. Es war genau umgekehrt. Hitler hatte während seiner Haft in Landsberg bereits den „Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ von Baur, Fischer und Lenz gelesen und in Mein Kampf verarbeitet. Ohne die Forschungen der Rassenhygiene, der Humangenetiker, der Ärzte, der Kaiser-Wilhelm-Institute ist das Programm der Nationalsozialisten nicht zu verstehen: Züchtung eines „höheren“ Menschentyps, wobei die Qualifikation des Lebensrechts nach der Eignung für die jeweils geforderte Arbeit bestimmt wurde. Der Krieg ist für diese Wissenschaftler nur ein Weg unter anderen, dieser Utopie näherzukommen.
In Polen begann bereits zwei Tage nach dem Sieg, am 29.September, der Mord an psychisch Kranken. Tausende wurden innerhalb weniger Tage getötet - also noch vor dem Erlaß Hitlers vom Oktober, der dann zurückdatiert wurde. Wie bereits in Deutschland, ließen es sich die deutschen Ärzte nicht nehmen, diesen Massenmord zu organisieren. Es handelte sich schließlich um Wissenschaft. Und die weiteren Schritte sind geplant, experimentiert wird mit fahrbaren Gaskammern.
Professor Jäckel verteidigte auch die deutsche Bevölkerung insgesamt, da wäre nur „Kriegsunlust“ zu finden gewesen. Er berief sich hierbei auf die Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei aus dem Jahre 1939. Auch hier muß ich wieder fragen: Hat er sie gelesen? Wenn in ihnen von Kriegsunlust die Rede ist, dann war es wie beim Militär. Gefürchtet wurde der Zweifrontenkrieg. Ansonsten wird aus Danzig berichtet, daß von Polen verlassene Wohnungen geplündert werden. Man ist in Deutschland davon überzeugt, daß die „Heimat gegen die polnische Bedrohung“ verteidigt werden müsse. „Auch der Spießer billigt im allgemeinen die Haltung Hitlers. England sei der Schuldige.“ „Ein anderer Katholik ist durch den polnischen Krieg und die Erfolge des deutschen Heeres ganz aus dem Häuschen geraten. Das sei eine großartige Sache.“ Festgestellt wird „allgemeines Verständnis für das rigorose Vorgehen der deutschen Amtsstellen in Polen“. Und über die „Führungsschicht“: „Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die maßgebenden Industriellenkreise und die führenden Militärs gegen den durch Hitlers Einmarsch in Polen entfesselten Krieg (...) wären.“
Jäckel verwies auf den Unterschied zwischen der Stimmung im September 1939 und der auf den Straßen sichtbaren Begeisterung im August 1914. Nur: Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Deutschen überzeugt zu gewinnen, jetzt fürchteten sie eine Niederlage. Aber jeder Erfolg wurde bejubelt, und die Begeisterung auf den Straßen wurde nachgeholt, nach dem Sieg über Frankreich.
Jeder Sieg war ein deutscher Sieg, der verlorene Krieg wird zum Krieg Hitlers erklärt. Professor Jäckel liefert hierzu die wissenschaftlichen Grundlagen, eine anstrengende Wissenschaft - was darf er alles nicht lesen und wissen. Für diese Wissenschaft ist nicht die Kenntnis der Quellen, sondern ihre Unkenntnis die Voraussetzung.
Die Organisatoren der Konferenz werden wohl auch Mühe gehabt haben: Peinlich genau achteten sie darauf Wippermann war der einzige Fehler -, niemanden einzuladen, der Jäckel widersprach. Das wird bei dem jetzigen Forschungsstand schwer gewesen sein. Nur ein Historiker aus der DDR war noch da, der aber nur sehr vorsichtig und höflich den „Konsens der Machteliten“ erwähnte.
Die anwesenden sowjetischen Historiker müssen sich ihre Quellen erst noch erschließen. Sie beklagten, daß sie an viele Aktenbestände immer noch nicht herankämen. Dies war spannend und neu, daß sowjetische Historiker keine offiziellen Standpunkte vertraten, sondern ausdrücklich persönliche Meinungen äußerten, die immer noch betriebene Geheimhaltung kritisierten. Aber man konnte auch hier Versuche erkennen, die Vergangenheit reinzuwaschen. Wie bei Jäckel Hitler den Krieg verursachte, so war es bei den sowjetischen Historikern Stalin allein gewesen. Über ihn und den sowjetischen Nichtangriffspakt wurde offen gesprochen. Der sowjetische Angriff auf Polen wurde als Angriff bezeichnet. Der Pakt mit den Nazis hätte Deutschland den Krieg ermöglicht. Da gab es keinerlei Beschönigungen mehr, wie sie in der DDR immer noch üblich sind. Alexander Cubarjan, auf so eine Idee wäre Jäckel nie gekommen, sprach auch von einer Dialektik zwischen Innen- und Außenpolitik. Er zählte Gründe für die Schwächen einer antifaschistischen Front in Europa auf: Die europäische Arbeiterklasse konnte nicht aktiviert werden, die meisten europäischen Intellektuellen blieben passiv, die Massenunterdrückung in der UdSSR schreckte ab (dieser Dissens wäre dann durch den Pakt mit den Nazis noch vergrößert worden).
Hier waren Ansätze, die innere Entwicklung der Sowjetunion, den Zusammenbruch einer antifaschistischen Front und den Stalinismus in einem Zusammenhang zu sehen. Aber bei diesen Ansätzen blieb es. Letztlich war es Stalin allein, der diese Schwäche gegenüber den Nazis verursacht hatte: „Stalins Verachtung moralischer Prinzipien und Normen“, so Cubarjan. Ähnlich äußerten sich auch die anderen sowjetischen Historiker. Aber kann die Macht Stalins von der leninistischen Parteistruktur, vom Konzept der organisierten Avantgarde getrennt werden? Und sind die Zwangsarbeitslager nur auf mangelnde Moral zurückzuführen? Liegt nicht bereits in der gewaltsam durchgesetzten Industrialisierung, in einer staatsterroristischen ursprünglichen Akkumulation der Grund für den Stalinismus, auch ohne Stalin? Und wenn, was verdienstlich ist, von sowjetischen Historikern jetzt offen über den Mord an 40.000 Offizieren der Roten Armee gesprochen wird, wer hat geschossen? Welche Wissenschaft hat die psychiatrischen Anstalten gerechtfertigt? Und wer hat in Spanien die Trotzkisten oder Anarchisten umgebracht, in dieser ersten nicht erklärten Einheitsfront mit den Nazis? Es gab immer nur eine Antwort: Stalin war's gewesen.
Bei deutschen Historikern ist solche Personalisierung grotesk bis peinlich. Bei den sowjetischen Historikern allerdings ist sie der erste Versuch, kritische Fragen an die Vergangenheit und damit auch an die Gegenwart zu stellen. Alexander Cubarjan folgerte aus der Geschichte: Außenpolitik und Geheimdiplomatie der Sowjetunion müßten unter demokratische Kontrolle gestellt werden.
Gekommen waren auch Historiker aus Großbritannien, Frankreich und anderen Staaten. Auch hier hatten die Eingeladenen genau aufgepaßt. Vorgetragen wurde klassische Diplomatiegeschichte. Die polnischen Historiker hatten die Nationalgeschichte wiederentdeckt. Subjekte der Geschichte waren die Staaten: „Deutschland“ machte dies, die „Sowjetunion“ jenes - und die Hauptstädte: „Berlin“ wollte, „Moskau“ nicht, „Warschau“ beharrte usw...
Keiner der Vortragenden kam aus Israel. Vielleicht war es zu schwierig, in diesem Land einen Historiker zu finden, der Jäckels These unterstützte, der Weltkrieg sei nicht Deutschlands Krieg gewesen.
Ein anderer Historiker war allerdings gekommen. Er wird sich, schon wegen des Niveaus der deutschen Kollegen, heimisch gefühlt haben. Der Bundeskanzler, Kohl heißt er, lud zum Empfang: Schloß Charlottenburg, Eichengalerie.
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