4 Uhr 45: Geschichte in Echtzeit

■ Das Deutsche Historische Museum in Berlin bat seine Besucher gestern früh zur Ausstellungseröffnung

„Die Zeit der Gesten ist vorbei. Jetzt sind Taten gefragt.“ So hieß es gestern in Warschau, wohin Ministerpräsident Johannes Rau auf Versöhnungsreise ging. Die polnischen Gastgeber jedenfalls wollten vor allem über Kredite und konkrete Hilfe reden. In Berlin dagegen waren gestern große Gesten gefragt. Das von Helmut Kohl initiierte Deutsche Historische Museum nimmt mit seiner Ausstellung zum 1.9.1939 den Jahrestag zum Anlaß für eine Leistungsschau in eigener Sache. Schließlich muß es immer noch seine umstrittene Existenz legitimieren.

Der gregorianische Kalender meint es gut mit erinnerungswilligen Nachgeborenen. Geschickt hat er Tage und Jahre so geschaltet, daß Halbjahrhundertjubiläen wieder auf den weiland Originalwochentag fallen. 1939 war der 1.September ein Freitag, und auch 1989 geruhte er - wie jeden Abend in der Wir-warten-auf-den-Kriegsbeginn-Echtzeit -Serie in der ARD betont wurde - wieder auf denselben zu fallen.

Und das ist gut so. Denn nach fünfzig Jahren schwört man in der historischen Kontemplation mit deutscher Präzision auf das Echte, auf daß wir alle leichter in jenen „sinnlichen Dialog mit der Geschichte“ treten, wie ihn Christoph Stölzl in dem von ihm geführten Deutschen Historischen Museum (DHM) am Originalschauplatz, der ehemaligen Reichshauptstadt, verheißt.

Die allererste Ausstellung der seit 1987 im Aufbau befindlichen Staatsanstalt trägt den verquasten Titel „Versuch über den Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“ oder kurz „1.9.39“ und wurde gestern originalerlebnishalber zur Originalkriegsbeginnzeit morgens um 4 Uhr 45 eröffnet - allerdings ohne Schweigeminute, wie sie sich der abbitteleistungswillige, frühaufgestandene und im übrigen für den Museumsbau zuständige SPD-Senator Wolfgang Nagel wenn-schon-denn-schon noch oben drauf gewünscht hätte - und ohne Direktor Stölzl. Der hatte verschlafen und konnte sich so erst um 5 Uhr 45 - dem Zeitpunkt, seit dem laut Adolf Hitlers Propagandalüge „zurückgeschossen“ wurde - pharisäerhaft über den aufrechten sozialdemokratischen Willen zur Sakralität lustig machen.

Während Gasteröffnungsredner und Historiker Jürgen Kocka hoffte, es würde „die Authentizität dieser Stunde vermittelt werden“, erklärte Stölzl in gekonnter Selbstdistanzierung, man habe lediglich „das Ritual auf die Spitze bringen wollen“. Schließlich hatte man mitbekommen, daß es Leute gab, die den Eröffnungszeitpunkt unpassend fanden und sich gar würde- und weihelos darüber mokierten. Und eine Institution, die wie das von Helmut Kohl höchstselbst initiierte DHM unter dem neuen rot-grünen Senat um ihr politisches Überleben kämpft, muß selbst jede auch nur eventuell drohende Kritik gleich in ihre Argumentation integrieren.

Sinnlicher Dialog

Ungefähr zweihundert Leute waren dem Lockruf des sinnlichen Dialogs gefolgt. Überall wisperte und kicherte es: „...Zurückgeschossen... Ja... Ha... Ha... Um 4 Uhr 45 oder um 5 Uhr 45...“ etc. Eine einmalige Gelegenheit, um mit eigenen Augen sinnlich wahrzunehmen, wer um diese pikante Zeit sich sonst noch hauptsächlich für eins interessiert: wer denn sonst noch da ist. Das übliche Vernissagenpublikum wollte wissen, ob vielleicht einmal nicht das übliche Vernissagenpublikum kommen würde.

Dennoch herrschten erschwerte Bedingungen: Der Krieg duldet keinen Kaffee, weshalb es solchen nebst Biobrötchen und Obstsaft erst gegen 7 Uhr morgens gab. Nicht umsonst hatte man sich seit Tagen über Wachhalte- bzw. Wachwerdestrategien ausgetauscht.

Distanziert hat man sich seitens des DHM rein vorsorglich auch vom Veranstaltungsort, einem finsteren, feuchten Keller mit Originalluftschutzatmosphäre unter einem Charlottenburger Gewerbehof, in dem das DHM derzeit mangels eigener Räumlichkeiten laboriert. Das Erinnern an den Krieg müsse nicht immer auf Teppichboden stattfinden. Man habe in Berlin (immerhin eine Millionenstadt) keinen anderen Raum gefunden, pragmatisiert man jetzt.

Es sei nämlich gar kein Schauereffekt in diesem Keller beabsichtigt gewesen, versicherte Stölzl im einen Satz, im nächsten zitierte er „einen der beiden Klassiker der Theoriebildung“ mit „Das Schaudern sei der Menschen bester Teil“. Und im dritten Satz beklagte derselbe Historiker dann, daß man nicht den Reichstag als Veranstaltungsschauplatz habe, der wäre „näher am Ort des Geschehens des Kriegsausbruchs“ gewesen. Geografisch hat er recht. Zu dumm nur, daß sich im schon 1933 ausgebrannten Reichstag - im übrigen ein Bauwerk mit durchaus demokratischer Tradition - 1939 gar nichts abgespielt hat. Als beliebig besetzbarer Erlebnis- und Projektionsraum scheint ein solch großes Gebäude trotzdem zu taugen.

„Schockierende Authentizität

Abgesehen von Raum und Zeit wird auch sonst reichlich „Attraktives“, „Anrührendes“ oder eben „Sinnliches“ aus dem „sinnlosen Vernichtungskrieg“ in „schockierender Authentizität“ kompakt dargereicht.

In einem dreitägigen, insgesamt 48 Stunden umfassenden Programm dozieren, diskutieren, referieren, reflektieren, rezitieren nicht nur einige der interessantesten (auch linken) Männer der Republik (und eine Frau), von Erich Kuby über Walter Kempowski, Heiner Müller bis Friedrich Kittler. Neben den „heiklen Gesprächen“, die Stölzl hier verspricht, werden in einem benachbarten Kino eine ganze Reihe von Spiel - und Dokumentarfilmen sowie „didaktisch bewußt nicht aufbereitete“ Original-Propagandawochenschauen gezeigt: „Eine Sache, die einem fast den Boden unter den Füßen wegzieht.“

Sinnlich, aber besonders nah am Krieg (ein Foto vom Krieg ist noch „zu weit weg vom Krieg“), wo man „den Atem des Schreckens“ besonders gut spürt, ist die „Tondokumentation“ mit dem Titel „Der unentrinnbare Lautsprecher“. Hanns Zischler und Sybille Lewitscharoff haben für ihre „Hörbilder“ aus den „Tonarchiven dieser Welt“ die Töne zusammengestellt, „die damals im Äther waren“. Denn „Töne sind sehr viel unmittelbarer als Bilder hinter Glas“.

Was die Ausstellung selbst und unmittelbar betrifft, so kann man gegen diese schlechterdings eigentlich keine Einwände haben. Gezeigt werden beispielsweise teils riesig große antisemitische Propagandaplakate, die die Behauptung, auch nur ein einziger Deutscher hätte „von nichts gewußt“, endgültig als die platteste und dreisteste überhaupt vorstellbare Lüge vorführen. Daneben die sogenannten „Herborner Judenakten“ - Dokumente der bürokratisch ordnungsgemäßen Abwickelung der „Endlösung“: Leben, sauber durchgestrichen mit Rotstift und Lineal. Wieder daneben Kriegsspielzeug, das von so enormer propagandistischer und wehrerzieherischer Wichtigkeit gewesen sein muß, daß selbst noch 1944 trotz aller Ressourcenknappheit Stücke mit größter Sorgfalt hergestellt wurden.

Wieder daneben Militärfotografien, daneben Zeichnungen aus dem Widerstand, daneben die „Nachrichten vom Tod“, Objekte, an denen jenes Blut wirklich klebt, das die Propaganda mithalf fließen zu lassen.

Leistungsschau

Wäre da nicht wieder der Titel der Ausstellung: „Versuch über den Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.“ Letzlich geht es eben doch nicht um den Krieg, nicht einmal um die Erinnerung daran. Es geht um den Umgang mit der Erinnerung und also um das Museum. Nicht umsonst wollte man „bewußt keine didaktisch ausgewogene Ausstellung mit Leihgaben aus anderen Museen“. Nein, man wollte „zeigen, was man in den letzten Jahren gesammelt hat“.

Ob das DHM mit vielen Millionen eine Sammlung anlegen soll, ist nämlich ebenfalls umstritten, deshalb jetzt diese Leistungsschau in eigener Sache. Ihr Erkenntnisgewinn muß also ungefähr so lauten, wie ihn Jürgen Kocka bei der Eröffnung vorformulierte: „Der Abbau dieses Museums würde einen geschichtsfeindlichen Akt bedeuten.“

So wird die Beschäftigung mit dem Thema Krieg in dieser kaum überschaubaren Verquickung mit expliziten museumspolitischen Interessen letztlich zum Vorwand. Die Opfer werden noch einmal mißbraucht, „in einem Moment, in dem etwas geschieht mit den Deutschen.“ Und Stölzl meinte tatsächlich die Deutschen - nicht die Polen.

Gabriele Riedle