: Polen 1939: „Schwach und allein“
■ Gedenkfeiern zum Jahrestag des Einmarsches der deutschen Truppen / 60 bundesdeutsche Gruppen in Polen
Warschau (dpa) - Pünktlich um zwölf Uhr ertönten gestern überall in Polen die Fabriksirenen. Der Verkehr stand still, und die Menschen blieben stehen. An der wichtigsten Zeremonie auf der Westerplatte im Hafen von Danzig nahmen Staatspräsident Wojciech Jaruzelski, der Solidarnosc-Führer Lech Walesa, der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki sowie Kriegsveteranen aus Ost und West und Vertreter der Kirche teil. Auf der Westerplatte fielen die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs.
Jaruzelski forderte die Polen auf, dafür zu sorgen, daß das Land nie wieder wie im September 1939 „schwach, zerstritten und allein“ ist. „Ohne die Erinnerung an die Vergangenheit kann kein Volk überleben“, sagte er. „Man hat das Schicksal der Nationen verkauft. Polen wurde von allen Seiten überfallen, zum Tode verurteilt. Heute habe das unabhängige und souveräne Polen das „Recht auf ein Leben in sicheren Grenzen“. General Jaruzelski spielte mehrmals auf den Hitler -Stalin-Pakt an und darauf, daß Polen 1939 auch von den Westmächten alleingelassen wurde - man habe das „Schicksal der Völker wie auf einem Jahrmarkt verschachert“.
„Das Volk wurde biologisch und materiell vernichtet, es wurde deportiert, nur weil es als Nation existieren wollte. Aber heute haben wir einen unabhängigen und souveränen Staat, und wir sind entschlossen der Zukunft zugewandt. Nie wieder Krieg - das ist unser Appell“, schloß er.
Polen gedachte anläßlich dieses Jahrestags zum erstenmal offiziell der sowjetischen Invasion vom 17.September 1939, die durch das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ermöglicht wurde. Die Solidarnosc forderte am Donnerstag abend, die Rechtsgrundlagen für die Stationierung sowjetischer Truppen in Polen zu überprüfen.
Aus Bonn nahmen an dieser Feier nur eine aus vier Mitgliedern be stehende Delegation des Bundestags sowie die Partei- und Faktionsführung der Grünen teil. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, gedachte am Gettodenkmal in Warschau der Opfer der Judenverfolgungen. In der Waldlichtung von Palmiry, wo die Gräber Tausender von den Nazis ermordeter Polen liegen, trafen sich 850 Jugendliche aus Nordrhein-Westfalen sich mit gleichaltrigen Polen. Gemeinsam gedachten sie der Opfer des Kriegs und des Naziterrors.
Mehr als 60 Gruppen aus der Bundesrepublik waren in diesen Tagen in Polen, um an diesem Jahrestag etwas für die deutsch -polnische Aussöhnung zu tun. Eines allerdings fiel auf: „Das Schuldbekenntnis ist bei euch wohl eine Sache der Opposition“, sagten mehrere polnische Gesprächspartner, denen die fast völlige Abwesenheit der Bonner Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP und der Bundesregierung auffiel.
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