: Falsche und richtige Fremde
■ DDR-Ausreisewelle offenbart Rassismus und Scheinheiligkeit von Politikern und Medien
Seit Tagen ist pünktlich zu den Abendnachrichten dieses diffuse Gefühl von Angewidertsein da, das sich immer dann einstellt, wenn die Fernsehkameras auf die ungarische Grenze blicken, und die Reporter sich mit ihren Mikrofonen vor der soundsovielten bayerischen Zeltstadt postieren. Eigentlich darf dieses Gefühl nicht sein, doch schon klopft der moralische Zeigefinger ins gesamtdeutsche Gewissen: schließlich können die Menschen nichts dafür, um die es dort jeden Abend geht. Und es wächst die Abwehr, deren mildester Ausdruck noch der Wunsch ist, daß auf der Stelle das „Wetter von morgen“ kommen möge. Immer mehr aber wird der Unwille über die abendlichen Fernsehberichte auch zu Wut. Wut über eine offenkundige Scheinheiligkeit und einen unausgesprochenen Rassismus, der sich in dem zeigt, was für andere nicht gesagt und getan wird.
Seit Tagen demonstrieren Medien und Politiker die krisenstabsmäßige Vorbereitung auf einen drohenden Notstand. Lageberichte aufgeregter Reporterscharen signalisieren: Die Gefahr rollt auf uns zu, aber freiwillige Helfer, mobiler Hilfsdienste und Rund-um-die-Uhr-Politiker sind gewappnet. Die Aufnahme der „Brüder und Schwestern aus dem Osten“, die längst nicht mehr auf bedingungslose Geschwisterliebe rechnen können, wird allabendlich zur nationalen Aufgabe erklärt - eine Aufgabe, die zu meistern ist, wenn alle nur wollen. Alle haben zu wollen, fordert das TV-installierte nationale Gewissen, und 'Bild‘ weiß auch, warum: „Lieber Bürgermeister“, bittet das Springerblatt in seinem gestrigen Willkommensgruß für die „lieben DDR-Bürger“, „denken Sie immer daran, es kommen keine Fremden in Ihre Stadt. Es sind Deutsche wie wir.“
Genau das ist es, was die Fernsehbilder so unerträglich macht: das Wissen, daß kein amtlicher Finger gerührt würde, wenn die jetzt in Bayern Erwarteten eine dunklere Hautfarbe hätten oder eine andere Sprache sprechen würden. Plötzlich zu sehen, wie man auch mit Flüchtlingsströmen umgehen kann, wenn man nur will. Zu hören, wie Politiker gegen Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung angehen, wenn es die richtigen Fremden sind. Zu beobachten, wie plötzlich doch Platz in dem Boot ist, das die Politiker längst wegen Überfüllung geschlossen hatten.
Deutlicher kann man Ausländern in der Bundesrepublik kaum demonstrieren, daß es hier zweierlei Menschen gibt. Helmut Kohl sagte es am Wochenende in einer Wahlkampfrede auf verblüffende Weise: Die Übersiedler aus der DDR seien keine Wirtschaftsflüchtlinge, denn auch die Verbesserung der Wohlfahrt und des privaten Wohlstands seien ein Menschenrecht. Wohl zum ersten Mal werden Flüchtlinge aus Sri Lanka, Ghana oder dem Iran dem Kanzler zustimmen können. Nur wird der sich dann nicht mehr an eine andere Losung seiner Partei erinnern wollen: die Losung nämlich, daß Menschenrechte unteilbar sind.
Vera Gaserow
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