: DDR-Abtrünnige müssen weiter warten
■ Ungarns Innenminister warnt vor voreiligen Hoffnungen: Es kann noch Wochen bis zur Massenausreise dauern / Erst müßten sich BRD und DDR einigen / Keine Ausreise mit BRD-Pässen / Keine „Nacht-und-Nebel-Aktion“ geplant / Auch Bonn dämpft jetzt Erwartungen
Budapest/Berlin (taz) - Fast sind sie schon da, und doch warten noch alle - die rund 5.000 DDR-Abtrünnigen in Ungarn und ihr Empfangskomitee aus Politikern, Hilfsdiensten und Bevölkerung in der Bundesrepublik. Das Tauziehen um den endgültigen Termin der „Massenflucht“ ist in vollem Gang: Während Bonn bislang Mitte der Woche mit dem Beginn der Aktion rechnete, setzte gestern der ungarische Innenminister Horvath gar einen möglichen Zeitrahmen von ein- bis eineinhalb Monaten, bis es „grünes Licht“ zur Massenausreise gebe. Selbst die Frage, ob die Übersiedlung überhaupt zustandekommt, knüpfte Horvath an eine unerwartete Bedingung: „Zunächst muß die Bundesrepublik mit der DDR verhandeln und eine Einigung finden. „Nicht wir sollen die DDR überreden, einer Lösung zuzustimmen, sondern die Bundesrepublik sollte das tun“, sagte er dem 'Stern‘.
Die Bundesregierung wurde gestern nachmittag offenbar von der jüngsten ungarischen Wende überrumpelt. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, dem das Horvath-Interview noch nicht vorlag, konnte lediglich die Standardformel der letzten Tage wiederholen, man sei weiterhin mit der ungarischen Regierung in Kontakt und hoffe auf eine humanitäre Lösung.
Die ungarische Regierung will jedoch offensichtlich bei der weiteren Planung Rücksicht auf die verbitterte DDR-Führung nehmen. Innenminister Horvath schloß, ebenso wie ein Vertreter der bundesdeutschen Botschaft in Budapest, eine „Nacht-und-Nebel-Aktion“ aus. Doch auch die Ausreise der DDR -Bürger mit bundesdeutschen Pässen, die von der Bonner Botschaft in Budapest ausgegeben werden, sei, so der Innenminister, „vorläufig nicht möglich“. Damit widersprach Horvath jüngsten Erwartungen, Ungarn werde sich souverän über geltende Abmachungen mit der DDR hinwegsetzen. Horvath bekräftigte sogar die DDR-offizielle Sichtweise: Ungarn könne nicht anerkennen, „daß Bonn die DDR-Bürger als eigene Staatsangehörige behandelt. Für uns hat die DDR die Souveränität über ihre eigenen Staatsbürger.“
Inzwischen ist Bonn darum bemüht, die mit der Errichtung von Zeltstädten in Bayern zusätzlich angeheizten Spekulationen um die Massenausreise zu dämpfen. Während in Bonn noch am Wochenende von einem Termin in der laufenden Woche ausgegangen worden war, wurden diesbezügliche Meldungen gestern als „frei erfunden“ bezeichnet. Ebenso werden jetzt die Fortsetzung auf Seite 2
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Zahlen der erwarteten Übersiedler nach unten korrigiert. Es sei völlig ausgeschlossen, daß 10.000 bis 20.000 DDR-Bürger aus Ungarn in den Westen ausreisen wollten, verlautete aus Regierungskreisen. Diese Zahlen basierten auf völlig haltlosen Rechnungen, nach denen zehn Prozent der 200.000 DDR-Touristen übersiedeln wollten. Demgegenüber nannte Horvath in seinem jüngsten Interview erneut die Zahl von 20.000 Fluchtwilligen. In Bonn geht man mittlerweile von 4.000 bis 5.000 aus. Diese Zahlen werden auch durch die Entwicklung in den ungarischen Flüchtlingslagern erhärtet. Denn auch hier blieb der erwartete Ansturm auf die Notunterkünfte bislang aus. Wie Vertreter des ungarischen Malteser Caritasdienstes mitteilten, wurden bisher in den Lagern in Budapest, am Plattensee sowie in Privatquartieren rund 4.700 ausreisewillige DDR-Bürger registriert. Unterdessen ver
suchen auch weiterhin Fluchtwillige, illegal über die Grenze nach Österreich zu gelangen. Nach Angaben der österreichischen Behörden erreichten in der Nacht zum Montag 45 DDRler die Alpenrepublik. Demgegenüber wurden am Wochenende 250 Menschen von ungarischen Grenzstreifen am Verlassen des Landes gehindert.
Warum die ungarische Regierung nach anfänglichen Signalen einer schnellen und unbürokratischen Abwicklung jetzt wieder die Bremse anzieht, ist unklar. Neben Druck aus der DDR wurden gestern auch Spekulationen über Widerstände aus der konservativen Fraktion der Kommunistischen Partei laut.
Heide Platen/eis
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