AUGE UM AUGE BETROGEN

■ „Maß für Maß“ im Schillertheater

Vielleicht hätte ich doch im falschen Theater bleiben sollen. In der Hetze des Rezensionsgeschäfts war ich blindlings im Renaissance Theater gelandet und dann ein bißchen irritiert über das volkstümliche Premierenpublikum, das wenig nach erregter Erwartung eines heiligen Shakespeare -ganz-neu-gesehen-Abends aussah. Kein Wunder, wie sich später durch einen Blick aufs Programm herausstellte; wo es dort doch in „Schon wieder Sonntag„(!) vielmehr den heiligen Trinker Juhnke, Harald, zu erleben galt. Ein bißchen Juhnke hatte ich dann aber dann auch. Davon später.

Es ist ja etwas Wahnwitziges um die Gleichzeitigkeit kultureller Ungleichzeitigkeiten. Während auf dem Messegelände des Congress Centrums die Internationale Funkausstellung noch damit beschäftigt ist, die erste Wirklichkeit in avanciertester Technik (hoch)aufzulösen, bis sie gänzlich verschwindet hinter ihrer kunstvoll künstlichen Als-ob-Wiederauferstehung, während im Ballhaus Naunynstraße das hochmodern japanisierte „tatoeba-Theatre Dance Grotesque e.V.“ um die Gunst der TV-enteigneten Sinne buhlt, indem es sich um Hemd und Hose tanzt, tritt Niels-Peter Rudolph im Schillertheater an, eine knapp 400 Jahre alte Shakespeare -Komödie wiederzubeleben, die in dessen Werkgeschichte unter die sogenannten „bitteren“ fällt. Und das mit der ebenso üblichen wie verlogen pathetischen Anpreisung, es handle sich um ein „Stück, das sich nicht auf einfache Formeln oder eine 'Geschichte‘ reduzieren läßt - in vielen seiner Fragestellungen ungealtert erscheint, wie so oft bei Shakespeare“ (Programmheft).

Aber sowas von ungealtert! Der adlige Claudio hat seiner Liebsten ein Kind gemacht, ohne schon ordentlich mit ihr verheiratet zu sein. Dafür soll er gehenkt werden. Nicht der echte Herzog hat das verordnet, sondern der falsche Ersatzherzog, ein Priester, dem der richtige Herrscher zeitweise die Macht anvertraut hat, um selber unerkannt ein wenig im Volke herumzukalifen. Es kommt, wie es kommen muß. Der sittenstrenge christliche Stellvertreter ist päpstlicher als der Papst, nimmt das schlafende Gesetz beim Buchstaben und spricht das Todesurteil. Er will sich auch nicht durch die Schwester des Verurteilten erweichen lassen, die sich gerade anschickt, Nonne zu werden. Bis, ja bis natürlich die Sinnenlust den Unerschütterbaren befällt. Er bietet der Novizin einen Deal an: Kopf gegen Keuschheit. Da aber sei der Himmel vor. Lieber, sagt sie, soll ihr Bruder einmal kurz und schmerzhaft sterben, als daß sie ein Leben lang ehrlos lebt.

Es gibt dann, zur Entschürzung des Knotens, den Shakespeare -gewohnten Rollentausch, die Einmischung des „Volks“ Zuhälter, Gaukler, Trinker; und dazu die komischen Einlagen etc. pp.

Und der Schluß glänzt dann in tiefen Selbsteinsichten der Guten und Bösen, die jeweils das eine und das andere nie ausschließlich sind, wie man weiß. Auf den letzten Metern schließlich setzt noch ein erstaunliches Heiraten im Triple -Verfahren ein. „Ende gut - alles gut“, wie auch die im selben Jahr 1603 geschriebene zweite „bittere Komödie“ heißt.

Das kann man natürlich als zeitlos gültige Thematisierung der Macht verkaufen, ihrer Verführungen und ihres Mißbrauchs. Oder noch globaler: als die Komödie ewiger menschlicher Schwächen. Und das tut, hochzielend, das Programmheft auch, in dem es schweres Geschütz auffährt: Texte von Bacon, Machiavelli, Erasmus, Augustinus, Cioran und Montaigne sind versetzt mit schönen und bedeutsamen Bildern. Nur, daß die halt im Programmheft zu sehen sind und nicht auf der Bühne.

Auf die hatte Shakespeare, damals, für die schau- und lachgierige Londoner Menge ein Stück arrangiert, in dem er mit leichter Hand historische Plots mit Zeitgenössischem mixte, dem Volk nach dem Herzen am Glanze der Herrschaft kratzte. Das war, damals, gewiß frisch und neu: unterhaltsam im modernsten Sinne; nach den streng antikischen Lehr- und Schwerdramen seiner Vorgänger. Und vorgetragen in einer in der Tat auch heute hinreißenden Sprachmächtigkeit. Nur - was macht man jetzt damit?

Während, wie gesagt, das tatoeba-Theater bis zur Besinnungslosigkeit Action produziert, zelebriert Rudolphs Schiller-Shakespeare Konvention bis zum reglosen Stillstand. Mir ist, mit Verlaub, absolut unklar geblieben, was ihn an diesem absurd vergangenen Stück interessiert haben mag, so wie es sich, handlungsgrobschlächtig und steh- wie sitzmonolog- und dialog-freudig, dahindehnte.

Dem konnten auch die schrecklich komischen Stücke im Stück nicht aufhelfen. Weder die obligatorischen Fechtszenen turnfreudiger Jungschauspieler noch die von ziemlich berühmten Stars durchaus lebhaft bewegt vorgetragenen Unterschichtseinlagen. Zumal dabei ein selbstmörderisches Stilgerangel herrschte. Es trat dann noch Bernhard Minetti als Bernhard Minetti-Selbstgänger auf. Ganz prima und in einem göttlichen Karl-Valentin-Jeansanzug. Und es geschah auch das Allerschrecklichste. In einem Sprung aus dem Stück heraus wickelte der Henkersknecht aus der Gruppe „Volk“ am Stichwort Gefängnis eine kleine Kabarettnummer ab, direkt von der Rampe zu uns ins Publikum. Es war darin von senatlichen Bauskandalen und Pilotenfehltritten die Rede „Herr Schwanz, wie geht es Ihnen? Ach, Ihr Champagner ist nicht kalt gestellt, das haben wir gleich“ -, und es war grauenhaft. Wie es immer grauenhaft ist, wenn das Theater sich selbst mißversteht und in einen immer schon verlorenen Konkurrenzwettlauf mit Fernseh- alias Mallorca-Urlaubs -Alleinunterhaltern tritt. Dieter Hildebrandt für Bedürftige oder Juhnke ohne Juhnke eben. Das Publikum wachte dankbar auf und lachte glücklich. Es beklatschte auch fleißig die Namensauftritte, besonders wenn Walter Schmidinger Walter Schmidinger war. Am Schluß gab es Bravos für die Namen und, zunehmend mühselig herbeigeklatschte, Mehrfachvorhänge. Man war zufrieden.

P.S.: Ein einziges Mal übrigens blitzte für Momente die verfehlte Möglichkeit auf. Aus der Pause heraus spielte eine kurze Fremdkörper-Szene in den Beginn des zweiten Teils hinein; ausgeheckt, notiert, arrangiert und mitgespielt von Otto Zykan, der im übrigen die Aufführung life am Klavier begleitete. In maniertestem Operettenboulevard besangen drei semikorrekt beanzugte Herren im Spring- und Wiegeschritt, mit spitzer Zunge und musikalisch leichtfertig unterlegt, was da auf der Bühne so ernst und lächerlich geschah. So hätte es sein können. Es hätte sich das Fremde als Fremdes ausstellen müssen. Stilisiert und eingerahmt und auf die Spitze getrieben. Oder, um mit dem halt doch zeitgenössischerem Medium zu argumentieren, ein wenig a la mode von Greenaways „Kontrakt des Zeichners“ oder Stephen Frears „Gefährlichen Liebschaften“. So war es halt Theater.

Christel Dormagen