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Memmingen, Mittelalter

■ Eine Schauspielerin hat das erste Stück zum Abtreibungsprozeß geschrieben

Eine der Frauen, die abtreiben wird, sagt: „Ich habe mich nie wirklich entschieden.“ Ihr Freund hat sich nach der Nachricht von der ungewollten Schwangerschaft aus dem Staub gemacht. Sie bleibt zurück, in einem eigentümlichen Zustand. Das Kind will sie auf keinen Fall. Daß sie sich aber gegen es entscheidet, könnte sie das wirklich sagen? Hier beginnen die Untiefen des Themas, das die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Bettina Fless bearbeitet und mit der Mannheimer Freien Gruppe „Triebtheater“ inszeniert hat. Die Premiere ihres ersten Stückes fand an ihrem Arbeitsplatz statt - im Nationaltheater, noch vor Spielzeitbeginn.

In ihrer collageartigen Szenenfolge Memmingen wiederholt sich eines: Egal wie einfühlsam, hysterisch, brutal die Freunde, Freundinnen, Angehörigen auf die Schwangerschaft reagieren - die Schwangere selbst gerät in eine Maschinerie. Was sie selbst will: Sie hat kaum eine Chance, es herauszufinden. Die Zeit bis zum Abbruch bringt sie wie betäubt hinter sich - alleingelassen, bevormundet, beraten, gedrängt. Endstation Klinik. In einer langen wortlosen Szene wird die Situation vor und nach dem Eingriff gespielt. Die Frauen liegen in den Betten, werden aufgerufen, kommen gekrümmt wieder. Stille. Nur die mechanischen Anweisungen der Krankenschwester, die Blicke der Frauen. Ihre Strategien, mit der Situation fertig zu werden. So lang die Spannung ohne ein Wort zu halten - das ist selbst für Profischauspieler nicht einfach. Den „Laien“ aus Mannheim - überwiegend Studentinnen - gelingt es.

So wortlos die Frauen geworden sind, so geschwätzig geben sich die „Sachverständigen“ in Sachen Schwangerschaft. Ihres Zeichens Richter und Staatsanwalt. Ort und Zeit: Memmingen, Mittelalter. Ihr rüdes Verhalten während der Verhandlung sehen wir nur kurz. Denn ihr eigentliches Vergnügen finden die beiden in ihren Phantasien. Die Autorin gestattet uns einen Blick auf sie. Und siehe da: Die beiden liefern einen Dialog wie aus einem Pornoreißer. Nun könnte man meinen, es werde allzu leichtfertig ein Klischee bedient. Aber durch die Art, wie der Dialog in Szene gesetzt ist, wird die Gefahr umgangen. Es ist grotesk, wie sich die beiden - ihr Phantasie-Fickobjekt mit Hundeleinen im Zaum haltend - in geifernde Geilheit steigern. Ein Bild dafür, wie es sich im Unterleib regt, während öffentlich Paragraphen gebogen und Frauen gedemütigt werden.

Auch drei BDM-Mädel tauchen auf. Ebenfalls sachverständig: Dem Führer ein Kind! Und dann setzt sich eine Frau vom katholischen Frauenverband vor das Publikum. Sie ißt Reisbrei: „Sie müssen jetzt nicht denken, daß, weil ich Milchreis esse, alle Frauen vom katholischen Frauenverband Milchreis essen.“ Klar. Aber falls die ein oder andere dem Reisbrei eher unwissend gegenüberstehen sollte, in bezug aufs Kinderkriegen sind sie es alle - sachverständig. Verklemmt, bösartig, hysterisch.

Bettina Fless hat kein dokumentarisches, kein Thesentheater auf die Bühne gebracht. Im Zentrum ihres Stücks stehen fünf Geschichten. Die unterschiedlichen Wege unterschiedlicher Frauen mit einem Ziel: Klinik. Protokolle von Gerichtsverhandlungen waren zwar die Vorlage, aber der Schauspielerin sind in der Bearbeitung überaus gehaltvolle Texte gelungen. Sie ist also doch möglich, die schnelle Inszenierung eines aktuellen Themas. Howard Brentons und Tariq Alis‘ Iranische Nächte zum Rushdie-Skandal ließen eher das Gegenteil vermuten.

Jürgen Berger

Bettina Fless, Memmingen. Weitere Aufführungen am 5. und 6.September im Ludwigshafener Haus der Jugend. Fraglich ist, ob das Stück weiter im Studio des Nationaltheaters oder an anderen Spielorten gezeigt wird.

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