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DDR-Opposition: Der lange Weg aus dem Ghetto

Eins hat die Fluchtwelle bewirkt: Die Krise der DDR ist jetzt auch als Krise der Opposition bei den Akteuren der Ostberliner Szene angekommen. Keiner der Aktivisten gibt sich heute noch für selbstgerecht-unkritische Lobeshymnen auf die oppositionelle Arbeit her. Angesagt ist die kritische Bilanz, das Unbehagen an der eigenen Unfähigkeit, die Ausreisekrise als Katalysator zu nutzen. Die Gründungsinitiative für eine sozialdemokratische Partei, die Aufrufe für eine DDR-weite Sammlungsbewegung in Ost-Berlin und Leipzig sind Ausdruck dieses Unbehagens - und zugleich erste tastende Versuche, daraus Konsequenzen zu ziehen, inhaltliche wie organisatorische.

Die Umstände, unter denen die neuen Initiativen ins Leben gerufen wurden, bewahren vor allzu hohen Erwartungen. Zwar wird an der landesweiten Koordination seit einiger Zeit herumgebastelt, doch die jüngsten Gründungsaufrufe kamen überraschend - selbst für die Akteure: Der Aufruf, den Werner Fischbeck am 13.August in der Treptower Bekenntniskirche vortrug, so versichert einer der Beteiligten, wurde erst unmittelbar zuvor beschlossen, um dem angestauten Defätismus der 400 vorwiegend ausreisewilligen Kirchenbesucher überhaupt etwas entgegenzusetzen. Ein spontaner Akt derjenigen, die wissen, daß die grassierende Resignation in der Gesellschaft - die Alternative Anpassung oder Ausreise - der beste Verbündete des Systems ist.

Auch die sozialdemokratische Gründungsinitiative kam eher überstürzt. Ursprünglich war sie, so einer ihrer Unterzeichner, für Ende des Jahres angesetzt; doch die Gelegenheit, anläßlich eines Menschenrechtsseminars knapp 200 kritisch Engagierte als Multiplikatoren zusammenzuhaben, gab den Ausschlag. Noch bis zuletzt gab es Widerstände in der Gruppe der fünf Erstunterzeichner.

Öffentlichkeit schaffen

„Öffentlichkeit“ ist das Schlüsselwort derjenigen, die an neuen oppositionellen Zusammenhängen arbeiten. Damit ist zugleich das entscheidende Defizit der bisherigen Aktivitäten benannt. „Es gibt in der DDR keine Öffentlichkeit für alternative Konzepte“, bringt Werner Fischer von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ das Dilemma auf den Punkt. Es gab bislang immer wieder spontane Aktionen, es gab - häufig im Zusammenhang mit staatlicher Repression - Schlagzeilen in den Westmedien. Es gab die kirchlich gedeckte Kritik, verbreitet in Untergrundpublikationen, die kaum über den Kreis ihrer potentiellen Autoren hinausreichten. „Was fehlt“, so Werner Fischer, „ist der Brückenschlag in die Gesellschaft.“

Die Ausreisekrise ist das sinnfälligste Beispiel für die Isolation der Systemkritiker. Die Abwanderungswelle ist das Symptom der Krise und zugleich das zentrale gesellschaftliche Thema: Kinder verlieren ihre Freunde, in den Betrieben fehlen die abgewanderten Facharbeiter, im HO um die Ecke ist nur noch eine Kasse besetzt. Aber von der Opposition organisierte Massenveranstaltungen des Unmuts bleiben aus, denn die kritische Öffentlichkeit, in der Veränderungskonzepte diskutiert und die Reformen eingefordert werden können, fehlt.

Westmedien nicht genug

An Informationen fehlt es nicht. Aber Westmedien machen noch keine Öffentlichkeit. Eher wirkt das allabendlich laute Kontrastprogramm zur offiziellen Verschweigestrategie lähmend. Schon richtet sich der Unmut vieler gegen die exzessive Berichterstattung, die distanziert-spektakuläre Verdoppelung dessen, worunter die meisten zu leiden haben. Der Übergang zur politischen Aktion - da können die SED -Oberen beruhigt sein - ist mit den Westmedien nicht zu machen. Der „Brückenschlag in die Gesellschaft“, die Mobilisierung der Betroffenen wird noch eine Weile brauchen.

Projektiert sind landesweite Treffen im Herbst, auf denen die Gruppenaktivitäten koordiniert werden sollen. Zielpunkt sind die Volkskammerwahlen 1991. Eigene Wahlbüros, eine gemeinsame Reformplattform und alternative Kandidaten stehen auf dem Programm. Wodurch der Staat gezwungen werden soll, diese Vorhaben zu tolerieren, ist weniger klar. Werner Fischers Postulat, die Opposition müsse „aus der Pose des Bittstellers herauskommen“, weil sie damit nur die bestehenden Verhältnisse anerkenne, mag zutreffen - doch wie will man den Übergang von der defizitären Bilanz in die Offensive schaffen?

Innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre sollen die bislang isoliert agierenden Gruppen fusionieren, unabhängige Koordinierungsbüros in den Großstädten aufgebaut und oppositionelle Publikationen gestartet werden, die deutlich über die bisherigen Auflagen von 500 bis 1.000 Exemplaren hinauskommen. Aber auch bei diesen konkreten Vorhaben ist die Reaktion des Staates noch offen. Mit „zivilem Ungehorsam“ allein, den einer der Ostberliner Vordenker empfiehlt, wird der Sprung aus dem Ghetto nicht zu machen sein.

Die ebenfalls propagierte Emanzipation aus dem Schutzraum der Kirche, könnte zudem in der Übergangsphase den Handlungsspielraum eher noch einengen. Wo sollen etwa die Räume für die „unabhängigen“ Büros herkommen? Unwahrscheinlich, daß sich die Opposition mit ihrem gewachsenen Selbstbewußtsein dem mäßigenden Einfluß der Kirche entzieht, zugleich aber - wie bisher - auf deren Infrastruktur zurückgreift.

Gefragt: Konzepte

Auch bei den inhaltlichen Diskussionen ist Dissens vorprogrammiert. Gerade weil die Gruppen bislang weitgehend einflußlos blieben, fehlten auch ernsthafte alternative Konzepte. Der „runde Tisch“ ist mittlerweile auch in Ost -Berlin ein faszinierendes Symbol für die in Bewegung gebrachten Verhältnisse, doch wer und mit welchen Alternativen an ihm Platz nehmen soll, bleibt offen.

Der „Mangel an guten Leuten“ wie an seriösen Konzepten, der jetzt allenthalben selbstkritisch beklagt wird, läßt zugleich eine andere Wunschperspektive entstehen: den Dialog mit den Reformkräften in der Partei. Das Vorhaben markiert eine realistische Wende der bislang diffus sozialistischen und zugleich mehrheitlich parteifeindlichen Opposition. Und die Position, mit „Verbrechern“ lasse sich „nicht kooperieren“, wie sie am 13.August in der Ostberliner Bekenntniskirche laut wurde, ist kaum mehr mehrheitsfähig. Aber: über tatsächliche Kontakte zu Parteireformern ist nichts bekannt.

Auf ominöse Reformkonzepte in irgendwelchen Schubladen kann sich die Opposition nicht verlassen. Um eigene inhaltliche Klärung wird sie also nicht herumkommen. Im Ökonomischen reichen die Vorstellungen bisher von der „endlich wahren Planwirtschaft“ über das schwedische Modell der SPD -Gründungsinitiative bis zur sozialen Marktwirtschaft bundesrepublikanischer Prägung. Daß dies alles unter einen Hut zu bringen ist, scheint eher zweifelhaft. Zumindest das Sozialstaatsprinzip steht, in Ablehnung der ungarischen Entwicklung, bei allen hoch im Kurs. Konsensfähig sind auch andere Forderungen: das Ende von Einparteienherrschaft und bürokratischer Willkür, frei gewählte Volksvertretungen und

-Reisefreiheit. Werner Fischer liefert dafür eine originelle Begründung: „je weiter man von hier wegkommt, desto lächerlicher wird die DDR - deshalb muß alles dafür getan werden, daß alle reisen dürfen.“

Biberkopf

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