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Wurden die Opfer von Tbilissi bewußt in Kauf genommen?

Miliz der Sowjetrepublik Georgien war unbewaffnet, als sie am 9.April die Demonstranten vor den Truppen des Innenministeriums schützen sollte  ■ I N T E R V I E W

Das Ergebnis einer parlamentarischen Untersuchungskommission des Obersten Sowjet in Moskau, der sich mit dem gewalttätigen Vorgehen der Spezialtruppen des Moskauer Innenministeriums gegen Georgier, die am 9.April in Tbilissi für nationale Unabhängigkeit demonstriert hatten, befaßt, steht noch aus. Parallel zur Arbeit der offiziellen Kommission stellte der freie Journalist Wachtang Bachtadse seit Monaten Recherchen an. Zur Zeit arbeitet er in der Presseagentur der Volksfront Georgiens. Es sei ausdrücklich vermerkt, daß Bachtadse in diesem Beitrag lediglich seine persönliche Meinung wiedergibt.

taz: Wie war es möglich, daß die georgische Polizei in der Nacht vom 8. zum 9. April unbewaffnet war, als sie die Demonstranten vor den Militärs schützen wollte?

Bachtadse: Die georgische Miliz wurde von General Kotschetow als Vertreter des gesamtsowjetischen Innenministeriums entwaffnet. Er war verpflichtet, sich mit dem georgischen Innenministerium abzusprechen, handelte in diesem Falle aber wie ein Statthalter, und es gab nach meinen Informationen hier keine Koordination.

Welche Rolle spielte hier General Rodionow als Oberbefehlshaber des transkaukasischen Wehrkreises?

Rodionow lebte erst ein Jahr hier in Tbilissi und besaß dann auch später die Unverfrorenheit, sich auf dem „Kongreß der Volksdeputierten“ als Tbilissier zu bezeichnen. Ich glaube wirklich, daß er hier den Sündenbock gespielt hat und daß andere Leute in der Generalität dahinterstanden: die ebenfalls aus Afghanistan kommenden „Blutgeneräle“, Jefimow und Kotschetow. Sie kennen den transkaukasischen Wehrbezirk sehr gut und beabsichtigten eine Abschreckungspolitik, die die Georgier ein für allemal davon abbringen sollte, Unabhängigkeit und Freiheit zu fordern, und die beweisen sollte, daß man hier ohne die Armee absolut nicht auskommen kann.

Was wir daraus gelernt haben, ist lediglich, daß diese Streitkräfte gegen unser Volk gerichtet sind. Es kommt jetzt eine interessante Etappe auf uns zu, in der die Abrüstungsgegner ihre letzten Trümpfe ausreizen.

Werden diese Leute vom Politbüro gedeckt?

Hier hatten sich offenbar Kräfte gegen die Entideologisierung, Entstalinisierung und Entmilitarisierung zusammengefunden. Das ist natürlich keine festumrissene Gruppe, die sich täglich irgendwo trifft. Aber ihre Interessen sind organisch miteinander verbunden, das sind die Parteikader der Bezirks- und Stadtkomitees, die sich ihre Kolchosen erhalten wollen.

Das sind die Kräfte des ehemaligen KGB-Chefs Tschebrikow und Jegor Ligatschows, der immer noch gewaltigen Einfluß hat. Die gleiche Konstellation gilt für Usbekistan, und zu Fergana war unser 9. April ein gewisser Auftakt. Die Lage ist besonders heikel, weil die panislamische und pantürkische Bewegung auch noch mit der usbekischen Mafia verquickt ist. General Rodionow befindet sich während unseres Gespräches übrigens in Baku.

Bekämpft Generalsekretär Gorbatschow diese Kreise?

Bisher hat Gorbatschow keine aggressive Politik den Konservativen gegenüber geführt, er ist vor ihnen auf der Hut und hat versucht, sie auf taktische Art aus dem Spiel zu ziehen. Darauf deutet auch die Sicherheit hin, mit der von Anfang an die ganze Sache mit der Untersuchungskommission des Obersten Sowjet zum 9. April eingefädelt wurde. Da sitzen jetzt zu gleichen Teilen Konservative und Liberale drin, und es ist nun schon beider gemeinsame Sache, diese Schuldigen in die Wüste zu schicken.

Gorbatschow hat also gewußt, daß sich hier Schuld anbahnt?

Der erste Sekretär der Partei ist so schlecht nicht unterrichtet, ich kann nicht glauben, daß er in England von alledem nichts hörte und daß man ihm nichts gesagt hat, weil es gerade nachts um vier war. Und schließlich muß Gorbatschow längst die Telegramme in der Hand gehabt haben, in denen der erste damalige georgische Parteisekrtär Patiaschwili vor dem Ereignis um „Beistand“ bat.

Gibt es Indizien für Ihre Annahme?

Einen kleinen Anhaltspunkt: Die Demonstranten vor dem Regierungspalast auf dem Rustaweliprospekt hatten schon am 1. und am 3. April versucht, dessen Stufen zu stürmen. Beide Male hinderten sie Soldaten daran. Am 4. aber ließ man sie sich in aller Ruhe dorthin setzen. Warum? Weil man wußte, daß sich die Stimmung in der Stadt in Anwesenheit der Panzer inzwischen so verschärft hatte, daß die Vertreter der allerradikalsten informellen Gruppen zuoberst sitzen würden.

Und tatsächlich saßen dann dort die Leute von der Partei „Unabhängiges Georgien“ und der „Nationaldemokratischen Partei“ mit Losungen wie „Nieder mit den Okkupationstruppen“ und „Nieder mit dem verfaulten russischen Imperium“. Man ließ es zu, daß sie sich mit ihren antisozialistischen Losungen kompromittierten. Dies konnten anschließend die Vertreter des militärindustriellen Komplexes als Argument mißbrauchen, um ihr Blutbad einzuleiten, mit dem sie sich ebenfalls kompromittierten. Eine Politik, die ein solches Ineinandergreifen der Ereignisse zuläßt, kann man gewiß als sehr geschickt betrachten.

Wenn man aber bedenkt, daß dies unter anderem mit dem Leben eines hübschen jungen Mädchens bezahlt wurde, die, vielen Zeugenaussagen zufolge, in jener Nacht einen russischen Soldaten bat: „Onkel, bring mich nicht um!“ und die von diesem auf der Stelle erschossen wurde - wenn man es so betrachtet, ist eine solche Politik gewiß nicht gut.

Das Gespräch führte Barbara Kerneck

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