Musiker sind nie politisch

■ Ein Henzehandbuch von Peter Petersen

Zu keinem anderen zeitgenössischen Komponisten gibt es so viel Literatur - das meiste hat er freilich selbst geschrieben oder von Freunden schreiben lassen. Vermutlich deshalb hält es der Autor des neuesten Henze-Buches für nötig, gleich auf Seite zwei klarzustellen, daß er es „ohne Absicherung durch und überhaupt ohne jeglichen persönlichen Kontakt“ mit dem Meister verfaßt habe. Also sozusagen unabhängig, unbestechlich, objektiv - endlich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über Hans Werner Henze.

Kaum ein Komponist der Moderne ist so populär - das neue Buch stand sofort im Regal meiner Lieblingsbücherei und zeigte alsbald deutlich Spuren der Abnutzung. Es hat ja auch einen fetzigen Untertitel und einen hohen Gebrauchswert: Peter Petersens Monographie Hans Werner Henze - ein politischer Musiker bietet neben den wichtigsten Lebensdaten ein Werkverzeichnis, Diskographie, Bibliographie sowie eine Fülle von Werkbeschreibungen und sogar eine Textsortenanalyse der Schriften Henzes. Sie ist obendrein, was sich bei musikwissenschaftlicher Fachliteratur wirklich nicht von selbst versteht, flott geschrieben und leicht zu lesen.

Petersen, Professor für Musikwissenschaft in Hamburg, macht kein Geheimnis daraus, daß er sich verliebt hat in Henzes Musik. In ihren Wohlklang zunächst, in ihre solide Machart gewiß auch, vor allem aber in ihre semantischen Qualitäten: Sie läßt sich so schön erklären. Das hat mit dem ausdrucksästhetischen Anspruch Henzes zu tun, der allen Kompositionen ein Sprachvermögen mit auf den Weg geben will und den meisten explizit eine moralische Botschaft. Nicht nur die vielen Opern und Theaterstücke, die Lieder, bei denen die Liaison zwischen Ton und Wort eher noch selbstverständlich ist, auch die Kammer- und Orchestermusiken Henzes haben dem Hörer ja immer dringend etwas zu sagen. Daß diese Art zu komponieren, die zurückgreift auf die ästhetischen Positionen des 19. Jahrhunderts und oft genug auch auf traditionelle musikalische Formen, nicht unumstritten ist, weiß Petersen ganz genau.

Er kennt sich vorzüglich aus in der Musik des 20. Jahrhunderts und spielt in aller Unschuld den Advokaten des Teufels: paraphrasiert etwa ein Stück von Cage, um eine Lanze zu brechen für Henze: „Um im Bilde zu sprechen: Bei der Begegnung mit Henzes Musik befinden wir uns in einem Konzertsaal, dessen Türen und Fenster n i c h t geschlossen, sondern zur Lebenswelt hin geöffnet sind.“ Nehmen wir zum Beispiel die siebte Symphonie, die 1984 zur Hundertjahrfeier der Berliner Philharmoniker geschrieben wurde und glatten Neoklassizismus kündet schon in den ersten Takten. Mit gutem Willen und etwas Respekt könne doch jeder, der nur „die ganze Sinfonie über eine Dauer von sechsundvierzig Minuten verfolgt und wirklich in sich eindringen läßt“, mitkriegen, daß die offenkundige Konventionalität der Zeichen höchst trickreich einem „realistischen Kunstkonzept“ verpflichtet sei. Und flugs schlägt Petersen den Bogen von den bourgeoisen philharmonischen Festivitäten zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen: „Ein leggiero für die Baßtuba vorzuschreiben bedeutet doch nicht, daß Henze meint, wir hätten Grund zu einem leicht spielerischen Leben in unserer Zeit. Das Konventionelle ist nicht nur eine Kategorie der Stilkritik, sondern kann zum Thema eines Essays oder eben einer Sinfonie erhoben werden... 'Als wäre nichts gewesen‘ und 'als stünde nichts an‘ - dies war ja exakt die politische Situation in der BRD Ende 1983.“ So einfach geht das: aus einer Handvoll Töne wird - simsalabim

-politische Musik.

Es ist natürlich gemein, ausgerechnet die schwächste Stelle vorzuführen. Denn weil der Autor seinem Gegenstand innig zugetan ist und sich mit ihm im Großen und Ganzen einig weiß, sind seine meisten Analysen aufschlußreich - im schönsten Sinne des Wortes. Weil er außerdem reinen Herzens vermitteln will zwischen den feindlichen Fronten des musikalischen Fortschritts, ist sein Buch auch für diejenigen, die Henze nicht mögen, lesenswert. Nur ein paar mißverständliche Begriffe muß jeder Leser für sich selbst abklären: mit Politik ist bei Henze/Petersen stets eine Art linke Moral gemeint oder vielmehr eine im weitesten Sinne humanistische Ethik. Mit politischer Musik meinen sie alle organisierten Geräusche, die sich in deren Dienst nehmen lassen. Das ist zwar ehrenwert, aber so gesehen ist alle Musik politisch. Und alle Musiker wären es auch. Umgekehrt ist ein Komponist, der schöne Musik zu schreiben weiß und sich außerdem noch als Antifaschist versteht, noch lange kein politischer Musiker. Aber was soll's: Wie gesagt, dies ist das erste und einzige Henzehandbuch - quadratisch, praktisch, gut.

Elisabeth Eleonore Bauer

Peter Petersen: Hans Werner Henze. Ein politischer Musiker. Zwölf Vorlesungen. Argument-Verlag Hamburg 1988. Paperback, 293 Seiten, 34 DM.