: Gorbatschows Knoten
Verschlechterte Lebensbedingungen und Nationalitätenkonflikt gefährden das Gorbatschow-Projekt ■ K O M M E N T A R E
Aus dem Urlaub zurückgekehrte Politiker tun gut daran, sich energiegeladen und entscheidungsfreudig in der Glotze zu präsentieren. In seiner ersten Fernsehansprache nach den Ferien stellt ein bedrückter Gorbatschow fest, daß „die Lage nicht leicht ist“ und „verschiede Probleme sich zu einem festen Knoten geschnürt haben“: Eine eher idyllische Situationsbeschreibung.
Fünf Jahre Perestroika haben es nicht vermocht, der sowjetischen Ökonomie einen neuen Impuls zu geben. Die Statistiker weisen für das erste Halbjahr 1989 stagnierende Produktionsziffern, erhöhte Produktionskosten und eine steigende Inflationsrate auf. Die Löhne sind bis zu 10 Prozent gestiegen, aber das Warenangebot wird immer dürftiger. Von Besuchen in der Sowjetunion heimgekehrte Ostmitteleuropäer fühlen sich angesichts der elenden Lebensbedingungen dort wie Bürger eines saturierten Industrielandes. Arbeitskämpfe, die Gorbatschows Position schwächen und den dogmatischen Demagogen Auftrieb geben werden, sind unausweichlich.
Der andere Strang des Knotens besteht aus den sich akkumulierenden Nationalitätenkonflikten. Gorbatschow hat in seiner Fernsehansprache die schroffen Angriffe des sowjetischen ZK auf die Volksfronten in den baltischen Republiken nicht wiederholt. Seine allgemein gehaltenen Angriffe auf „Elemente“, die „das Land ins Fieber stürzen“, ebnen allerdings den wesentlichen Unterschied zwischen den verschiedenen nationalen Bewegungen in der Sowjetunion ein. Es geht um die Frage, ob der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht einen universellen, in den Menschenrechten verwurzelten Kern hat oder ob er nur Ausdruck bornierter Interessen ist.
Die Auseinandersetzung über die Minderheitenrechte innerhalb der baltischen Republiken betreffen genau diese Frage. Nur wer der polnischen und russischen Minderheit z.B. in Litauen gesicherte Rechte gewährt, kann das Selbstbestimmungsrecht für sich selbst legitimerweise in Anspruch nehmen. Die von Gorbatschow angekündigte „grundlegende Umwandlung“ der sowjetischen Föderation kann nicht als technisches Projekt angefaßt werden, bei dem die Kompetenzen der einzelnen Republiken gegenüber den Befugnissen der Zentralmacht ausbalanciert werden. Voraussetzung für das Gelingen einer neuen Föderation ist der Sieg der auf demokratische Freiheiten, Rechtsstaat und politischen Pluralismus hindrängenden Kräfte - vor allem in der russischen Föderation selbst.
Zum Zeitpunkt von Gorbatschows Rede versammelte sich in Kiew der erste Kongreß der ukrainischen Volksbewegung. In dieser am meisten russifizierten, vom Stalinismus am gründlichsten seiner nationalen Führung beraubten Sowjetrepublik schien das Regime der Stagnation endlos zu währen. Die jetzt in Kiew erhobenen Forderungen berühren unmittelbarer noch als in den baltischen Staaten das Verhältnis zu den Russen. Gegen die Einführung des Ukrainischen als Staatssprache wie gegen die Legalisierung der katholisch-uniierten Kirche wird sich der großrussische Chauvinismus in all seinen Schattierungen, einschließlich der russisch-orthodoxen Kirche, erheben. Die ukrainische Volksbewegung ist deshalb der Testfall, in dem sich die russischen Demokraten bewähren müssen. Bleiben in dieser Auseinandersetzung die russischen Chauvinisten Sieger, so werden sich auf der anderen Seite in der Ukraine die reaktionär-nationalistischen Kräfte durchsetzen. Dann allerdings wäre der Bestand der Sowjetunion in Gefahr.
Christian Semler
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