Geschichten aus einem anderen Land

Menschen im Lager in Budapest: Erinnern an die Vergangenheit in der DDR, hoffen auf die Zukunft in der BRD / Fluchtpläne haben sich selbst die besten Freunde verschwiegen / In den ungarischen Zeltlagern treffen sie sich wieder  ■  Aus Budapest Heide Platen

Altweibersommer in Budapest. Von der Fischerbastei aus geht der Blick weit über die Stadt in die Berge. Eva erzählt eine Geschichte aus einem anderen Land. Dort hat sie ihre Geschichten nicht erzählen können. In ihrem Land erzählen sich die Menschen keine Geschichten, und wenn, dann flüstern sie. Hier, in der ungarischen Warteschleife, fangen ihre leisen Erzählungen alle an mit: „Bei uns in der DDR...“ und sind für die Zuhörer Exotik. Eva erzählt immer weiter, bis es hinter ihr im Gebüsch raschelt und sie erschrickt und mitten im Satz unterbricht und sich umdreht. Eva weiß nicht, daß sie ihren Kindern zu oft sagt: „Nicht so laut.“

Evas Geschichten handeln von Kindern. Sie erzählt die von den blauen Punkten. Sie begann in ihrem Ort für jedes DDR -Kind in der Kinderkrippe. Hier wird darüber gewacht, daß es sich seinen Talenten und Fähigkeiten entsprechend zu einem brauchbaren DDR-Bürger entwickelt. Dafür gibt es feste Kriterien. Schauen und Begreifen, Anfassen und Zufassen, Laufen und Sprechen haben ihre Zeit, sind einordbar in den sozialistischen Plan.

Besorgte StaatsbürgerInnen wachen über die Kleinkinder und verteilen die blauen Punkte, wenn sie um die erwartungsgemäße Entwicklung eines Babys bangen. Blaue Punkte geben zur Besorgnis Anlaß.

Dann kommt das Kind in die Schule. Es nimmt seine blauen Punkte mit.

Eva erzählt die Geschichte von dem unfreiwilligen Klavierbauer. Er hatte zu viele blaue Punkte. Seine Punktskala wies ihn als geborenen Handwerker aus. Es fehlte gerade ein Klavierbauer. Der Fotograf wurde Gärtner, die Gärtnerin wäre gern etwas anderes geworden.

Armin und Peter sind Freunde - seit sechs Jahren. Sie kommen aus einer Kleinstadt in der DDR. Sie wußten nicht, daß sie sich im ungarischen Flüchtlingslager wiedertreffen würden. Sie haben darüber miteinander nicht geredet. Beide haben ihre Flucht lange und akribisch geplant. Sie schwiegen, um sich gegenseitig zu schützen. Nicht: „Wir gehen zusammen“, sondern: „Man will ja niemanden mit reinziehen“. Gerade die besten Freunde nicht.

Enttäuscht und verbittert

Das Ehepaar S. war in Magdeburg zu Hause. „Wir haben alles gehabt“, sagt Frau S.: Auto, Farbfernseher, Schrankwand, West-Geld. Ihr Mann schimpft lauthals über die Planwirtschaft. „Er war nicht immer so“, sagt Frau S. Er wollte bleiben, was verändern. Nur, meint sie, da ändert sich nichts. Herr S. reißt zornig einen kleinen grünen Zettel aus der Brieftasche, sein Ausreise-visum: „Das ist kein Ausreisevisum, sondern die Genehmigung für einen Antrag auf Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr.“ Mit diesem Zettel darf er sich über die CSSR, Ungarn, Rumänien (und nur so) nach Bulgarien (und nur dorthin) begeben - für genau 14 Tage. Er ist in Ungarn ausgestiegen. Vorher hatte er einen „Antrag zur Prüfung der Antragsberechtigung“ stellen müssen. Die Bearbeitung dauerte vier Jahre.

Warum das so war? Er weiß es nicht und will es jetz aucht nicht mehr wissen. Früher hat er versucht, Gesetzestexte, Kommentare zu bekommen. Frei zugänglich und leicht zu haben seien in der DDR für BürgerInnen nur das Arbeitsgesetzbuch und die Verfassung, vielleicht noch die Straßenverkehrsordnung. Aber nachzuvollziehen, warum Behörden wie entscheiden, das sei ihm nicht gelungen.

Seine Frau dreht ihren schmalen Ehering. Er wird langsam grau, die dünne Goldschicht ist abgerieben, er hinterläßt Schmutzstreifen an ihrem Ringfinger. Einen echten goldenen Ehering hätte sie gerne gehabt. „Aber Gold. Woher hätte ich es nehmen sollen?“ Sie wollte immer schon weg, er wollte bleiben, hoffte auf die Wahlen im Mai 1989, auf „einen Ruck“. Geredet haben sie über den Fluchtplan mit niemandem: „Es ist schwer, in der DDR überhaupt jemanden kennenzulernen, Bekannte zu finden. Niemand traut dem anderen.“ Hier im Lager haben sie welche wiedergetroffen. Jetzt reden sie offen miteinander. Hoffnungen auf die Zukunft? „So weit haben wir noch gar nicht gedacht.“ Ein eigenes Cafe vielleicht. „Aber wir können auch scheitern.“

Und dann sind da wieder Armin und Peter, unermüdlich und unerbittlich spottend - und aufbauend. Duckmäuser, Spießer, nennen sie ihre Landsleute. Jeden, der hier lauthals über die DDR herzieht, fragen sie, wie er denn im Mai gewählt habe, ob er überhaupt hingegangen sei, ob er mit Ja oder Nein gestimmt habe.

Evas leise Stimme sagt, sie sei hier auf einem fremden Stern: „Die DDR ist die Vergangenheit, die BRD ist die Zukunft. Wir leben hier in der Gegenwart.“