Zentimeter für Zentimeter zum Gipfel

■ Boris Becker gewinnt durch ein 7:6, 1:6, 6:3, 7:6 gegen Ivan Lendl die US Open

Berlin (taz) - „Wenn Becker in der zweiten Runde gegen Rostagno bei Matchball gegen sich einen Zentimeter tiefer zielt, ist er der letzte Dreck, jetzt kann er das Turnier gewinnen.“ Mit diesem Vergleich wollte Martina Navratilova verdeutlichen, wie dicht im Tennis Sieg und Niederlage beieinanderliegen. Sie selbst hatte wenig Glück mit den entscheidenden Zentimetern, dafür waren sie bei diesen US Open eindeutig auf Boris Beckers Seite; nicht nur in besagtem Zitterspiel gegen Rostagno, sondern auch im Finale der „Internationalen Tennismeisterschaften der USA“ gegen Ivan Lendl.

Das war der winzige Unterschied zwischen der unglücklichen Weltranglistenzweiten Navratilova, die zum Trost wenigstens noch das Doppel mit Hana Mandlikova gegen ihre alte Mitspielerin Pam Shriver und deren Partnerin Mary Joe Fernandez gewann, und dem Weltranglistenzweiten Becker. Beide hatten sie gegen die jeweilige Nummer eins ihres Metiers einen komfortablen Vorsprung, der normalerweise zum Matchgewinn reichen sollte - Navratilova führte gegen Graf mit 1:0 Sätzen und 4:2 Spielen, Becker gegen Lendl mit 2:1 Sätzen und 4:2 Spielen - beide vermasselten sich diese Chance durch ein nervöses, doppelfehlerbehaftetes Aufschlagsspiel und ließen ihre Gegner wieder auf 4:4 herankommen.

Aber während Navratilovas Bälle in der Folge meist knapp im Aus landeten und sie das Match verlor, gelang es Becker, die Konzentration zu wahren, vorzüglich aufzuschlagen, weiter mit großer Beharrlichkeit genau die Linie zu treffen und den Satz bis zum 6:6 offen zu halten. Im Tie-break hatte er dann eindeutig die besseren Nerven, verwandelte den zweiten Matchball nach 3:51 Stunden zum 7:5 und hatte zum ersten Mal ein anderes Grand Slam-Turnier als Wimbledon gewonnen. Zudem glich Becker seine Bilanz gegen Lendl auf 7:7 aus und rückt dem Exil-Tschechoslowaken, der zum achten Mal im Finale der US Open stand und zum fünften Mal verlor, jetzt auch in der Weltrangliste mächtig auf die Pelle. Sein Rückstand zu Lendl schrumpfte von 40 Durchschnittspunkten auf etwa zehn.

Die sich andeutende Ablösung an der Spitze des Welttennis spiegelte sich bereits im Verlauf des Matches wider, das bei einer brütenden Hitze von 50 Grad auf dem Center Court begonnen hatte. Abgesehen vom zweiten Satz, den Becker früh verloren gab, war er der etwas stabilere Spieler in diesem recht ausgeglichenen Match, in dem beide Kontrahenten genau gleichviel Punkte machten (134). Lendl hatte insgesamt größere Schwierigkeiten, seinen Aufschlag durchzubringen, returnierte oft schlecht, war außer mit seinen gestochen scharfen Passierschlägen nicht in der Lage, direkte Punkte zu machen und hatte eine gewaltige Achillesferse: die Rückhand. Katastrophal seine Versuche, Beckers Aufschlag per Rückhand-Slice zurückzubringen, einigen guten Cross-Returns standen Unmengen von Fehlern gegenüber.

Am Anfang des vierten Satzes schien er vollends jegliches Vertrauen in seine Rückhand verloren zu haben und jedesmal einen heftigen Schreck zu bekommen, wenn der Ball auf diese zuflog. Becker, der in den Pausen seine Beine vorsorglich mit krampfhemmendem Vereisungsspray behandelte, ließ sich dadurch zu hasardeurhaften Angriffen hinreißen, die Alt -Boristrainer Günter Bosch sogleich zur neuen Taktik ernannte, die „Stürze-Taktik“: den Ball auf die Rückhand plazieren und einfach ans Netz stürzen.

Auch nachdem ihm der unverhoffte 4:4-Ausgleich im vierten Satz geglückt war und fast alle der 20.000 Zuschauer versuchten, ihn zum fünften Satz zu peitschen, wirkte Lendl alles andere als siegessicher. Das Bewußtsein, daß er die letzen drei Begegnungen mit Becker sämtlichst verloren hatte, schien kräftig an ihm zu nagen, häufiger als gewohnt prallten seine Bälle knapp hinter der Grundlinie oder neben der Seitenlinie auf. In diesem Finale wurde er das Opfer der unbestechlichen Arithmetik des Tennissports, die diesmal eindeutig einen anderen begünstigte: Boris Becker, für den der Weg vom „letzten Dreck“ zum „König der US Open“ ('Gazzetta dello Sport‘) diesmal nur einen Zentimeter weit war.

Matti