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Ungarn entscheidet für das Selbstbestimmungsrecht

Das 'Neue Deutschland‘ setzte den erwarteten Kontrapunkt. Während die europäische Öffentlichkeit gebannt und schon ein wenig überdrüssig auf die Grenze starrt, über die seit gestern morgen 3.05 Uhr der DDR-Flüchtlingstreck in den Westen rollt, machte das SED-Zentralorgan am Montag mit einem siebenspaltigen Foto auf: „Antifaschistische Massenkundgebung auf dem August-Bebel-Platz in Ost-Berlin“. Das Foto der gigantischen Menschenmenge - bestehend aus 200.000 „Bürgern aller Schichten der Bevölkerung“ - soll noch einmal beschwören, woran angesichts des massiven Ausreisewillens niemand mehr glaubt: die Stabilität des DDR -Sozialismus, gesellschaftliches Engagement im Lande, zufriedenstellende Lebensverhältnisse; - all das, was die DDR-Führung, hilflos-überrascht durch die jüngste Ausreisedynamik, ihren Bürgern seit Wochen in einer propagandistischen Sondervorstellung einzubleuen sucht - mit offensichtlich gegenteiligem Effekt.

Denn die Mischung aus Drohung, Beschwichtigung und aufgesetztem Stolz aufs Erreichte konnte weder das zentrale gesellschaftliche Thema austreiben noch gar die fluchtentschlossenen Ungarn-Touristen ins Land zurückholen. Angesichts der vehementen publizistischen und politischen Unterstützung, die den Ausreisewilligen in den ungarischen Lagern zuteil wurde, wirkten die Versuche der DDR, ihre Bürger zurückzuholen, fast schon rührend: Nachdem alle diplomatischen Interventionen in Ungarn nichts bewirkten, versuchte die DDR mit Flugblättern und einem Beratungsbüro in Budapest für den heimischen Sozialismus zu retten, was zu retten war.

Am Ende blieb der SED nur noch die Möglichkeit, den Flüchtlingsstrom mit einer harschen „Mitteilung des 'adn'“ zu flankieren. Auch nicht andeutungsweise versucht die DDR die angespannten Beziehungen zu Ungarn zu kaschieren: Von einer illegalen Nacht-und-Nebel-Aktion und „organisiertem Menschenhandel“ ist die Rede, die von der Ungarischen Volksrepublik „unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen“ ermöglicht wurden. Die ungarischen Genossen hätten sich für eine aus der BRD gesteuerte, von langer Hand vorbereitete Aktion hergegeben.

Demgegenüber begründete die ungarische Regierung ihre Entscheidung mit der Verpflichtung auf die „anerkannten Prinzipien des Menschenrechts“. Aus humanitären Überlegungen heraus habe man sich entschlossen, die Ausreise für diejenigen DDR-Bürger zu ermöglichen, „die sich in Ungarn aufhalten und die es ablehnen, nach Hause zurückzukehren“.

Das vorläufige Ende der ungarischen Gratwanderung zwischen KSZE-Vereinbarung und bilateralen Verpflichtungen gegenüber der DDR ist ein harter Schlag für die Ostberliner Führung. Obwohl die ungarischen Vertreter schon vor Wochen eine „humanitäre Lösung“ favorisierten, hatte die SED wohl bis zuletzt auf die Bindewirkung der Vereinbarung von 1969 gesetzt. Darin hatte sich Ungarn verpflichtet, DDR-Bürger nicht nach Westen ausreisen zu lassen und sogenannte „Grenzverletzer“ an die DDR auszuliefern. War diese Praxis bereits durch den Abbau der ungarischen Grenzanlagen und die bald einsetzende Flucht nach Österreich mehr als durchlöchert, so markiert die am Sonntag verkündete Lösung doch einen qualitativen Sprung. Erstmals entscheidet sich ein Warschauer-Pakt-Mitglied unter Bruch bestehender Vereinbarungen mit einem Bruderland für die Einhaltung internationaler Normen und die Anerkennung individueller Selbstbestimmungsrechte.

Bis zuletzt hatte Ungarn die prekäre Situation mit der Sprachregelung zu meistern versucht, es handele sich bei der entstandenen Situation um ein deutsch-deutsches Problem, das nicht in Budapest, sondern in Bonn und Ost-Berlin gelöst werden müsse. Daran hält die Regierung auch in ihrer Entscheidungsbegründung vom Sonntag fest: Um sich vor den erwarteten Angriffen aus Ost-Berlin zu schützen, weist man in Budapest - zu Recht - die Verantwortung für die entstandene Situation von sich. Es sei - so heißt es in der Erklärung an die Adresse der SED - „nicht Aufgabe der ungarischen Regierung, den Ursachen dieses Problems nachzugehen“. Aufgrund der „unhaltbaren Zustände“ an der ungarisch-österreichischen Grenze - gemeint sind die massenhaften illegalen Grenzübertritte - sehe sich die Regierung jedoch gezwungen, die Vereinbarung von 1969 außer Kraft zu setzen. Von einer Befristung dieser Maßnahme ist in der Erklärung nicht die Rede. Kaum vorstellbar, daß Ungarn nach der jetzt laufenden Übersiedlungsaktion erneut auf Blockloyalität umschaltet und sich als Grenzwächter der DDR instrumentalisieren läßt. Das Zentralorgan der ungarischen KP brachte die Regierungsentscheidung gestern schnörkellos auf den Punkt: „Der Weg für die DDR-Bürger zum Verlassen unseres Landes ist von heute an frei.“

Daß das Ende des diplomatischen Gerangels um die Ausreise mit wirtschaftlichen Versprechungen von bundesrepublikanischer Seite forciert wurde, ist wahrscheinlich. Zwar lassen sich dem Dementi von Außenminister Genscher keine Fakten entgegensetzen; doch Ungarn geht mit seiner Entscheidung neben der politischen Verstimmung zu Ost-Berlin ein nicht unerhebliches ökonomisches Risiko ein. Budapest ist der fünftgrößte Handelspartner der DDR; auf die jährlich 1,8 Millionen Touristen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat kann man - ohne materielle Kompensation - kaum verzichten. Unwahrscheinlich ist es, daß Ungarn, das außenpolitisch einen forcierten Westkurs fährt, das ökonomische Risiko der jetzt getroffenen Entscheidung ohne materielle Hilfestellung aus Bonn auf sich genommen hat.

Auch wenn ein Touristenstopp aus der DDR der naheliegende Reflex aus Ost-Berlin sein könnte, birgt diese Maßnahme für die SED-Führung erhebliche Risiken. Es wäre das fatale Signal an die verunsichert-resignierte Bevölkerung, daß die Partei reformfeindlichen Kurs auch auf die Gefahr internationaler Isolation weiter mit repressiven Maßnahmen durchhalten will.

Nachdem sich die Ära Honecker mit biologischer Notwendigkeit ihrem Ende nähert, wird die Reaktion auf die ungarische Entscheidung in der DDR-Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit als zukunftsweisendes Signal interpretiert werden. Wenn es ernstzunehmende Kräfte in der SED-Führungsspitze gibt, die die Aussichtslosigkeit der bisherigen Linie erkennen, könnte die repressive Antwort diesmal ausbleiben. Eine Entscheidung nach bewährt -irrationalem Muster hingegen würde den Ausreisedrang und damit die Erosion des Systems weiter verschärfen.

Matthias Geis

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