: Am Ziel - im gelobten Land?
■ Rund 5. 500 DDRlerInnen waren gestern abend in der BRD eingetroffen / Honecker angeblich schwer krank
Berlin (dpa/ap/taz) - Rund 16 Stunden, nachdem die ungarische Regierung am Sonntag abend den Startschuß für die Ausreise in den Westen gab, haben sich die Lager in Ungarn geleert. Gegenüber ap meldete der Leiter des Malteserhilfsdienstes am Montag um 16 Uhr Vollzug: der letzte Bus mit ausreisewilligen DDR-BürgerInnen habe das Lager verlassen. In Bayern waren nach Angaben des Bundesgrenzschutzes zu diesem Zeitpunkt rund 5.500 Ex-DDRler angekommen. Dabei handelte es sich aber lediglich um die Privatreisenden. Busse und Sonderzüge standen noch aus.
Die mit großem propagandistischem Aufwand in Bayern errichteten Notaufnahmelager füllten sich dagegen nur spärlich. Die meisten DDRler zog es gleich zu Freunden oder Verwandten. Wieviele OstauswanderInnen in den kommenden Tagen noch in Bayern anlanden werden, wußte gestern noch niemand zu sagen. Nach ungarischen Angaben halten sich rund 60.000 DDR-Besucher in Ungarn auf. Entgegen vielen Befürchtungen nahmen die Reisebüros in der DDR auch gestern noch Buchungen für Ungarnurlauber entgegen. „Es läuft wie bisher“, hieß es in den „Ibusz-Büros“ in Ost-Berlin.
Nichts mehr wie bisher läuft dagegen im SED-Staatsapparat. Bislang fehlt jede interne Parteiinformation zum Problem der UngarnurlauberInnen. „Wir haben den Eindruck, ein Staat ohne Führung zu sein“, klagte ein SED-Funktionär gegenüber ap. Seit der Gallenblasenoperation Honeckers im letzten Monat verdichten sich die Indizien, daß der Partei- und Staatschef tatsächlich gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Ostberliner Ärzte berichteten, Honecker habe zweimal operiert werden müssen, da es bei dem ersten Eingriff Komplikationen mit der Herzfunktion gegeben habe. So blieb es gestern in Ost-Berlin bei einer scharfen Stellungnahme der offiziellen Nachrichtenagentur 'adn‘, in der der ungarischen Regierung „Komplizenschaft bei illegalem Menschenhandel“ vorgeworfen wurde.
Die Bundesregierung jubelte dagegen über einen Sieg der Menschlichkeit. Bundeskanzler Kohl, den die Meldung über die ungarische Entscheidung rechtzeitig vor Beginn des CDU -Bundesparteitages erreichte, gab sich sichtlich erleichtert. „Ich bin sehr, sehr dankbar für diese Entscheidung“, betonte Kohl. Er dankte den BürgerInnen in Ungarn und Österreich für ihre Unterstützung und betonte: „Wir werden dieses Zeugnis der Menschlichkeit nicht vergessen.“ Fortsetzung Seite 2
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Nicht zuletzt dieses Versprechen, nährte auch am Montag die Spekulatoonen um das ökonomische Entgegenkommen der Bundesregierung an Bundespest. Die ungarische Regierung wies dagegen die Gerüchte um Kopfgelder pro Ausreisender vehement zurück. Das sei „eine Beleidigung“ für Ungarn, tönte Außenminister Horn, die entscheidung für die Ausreise der DDR-Bürger sei aus rein humanitären Erwägungen gefallen.
Ähnlich wie Kohl reagierte auch Außenminister Genscher, der ebenfalls durchblicken ließ, man werden den Ungarn ihre Entscheidung nicht vergessen. CSU-Chef Waigel, der mit seinem Vorstand gestern in eine Klausurtagung ging, nutzte die Gelegenheit, um der DDR-Führung erneut vorzuhalten, ihr Staat habe keine Identität und könne den Menschen keine heimat bieten. Die Abstimmung mit den Füßen sei ein deutlicher Appell an die Staatsführung, endlich Reformen einzuleiten. Wie die Bundesregierung begrüßte auch die Opposition die ungarische Entscheidung. Vogel rief seine Partei zu solidarischer Hilfe mit den Übersiedlern auf - die Übersiedler bräuchten Hilfe bei der ersten Orientierung in einer noch fremden Gesellschaft.
Wesentlich schärfer erinnerte Kohl die bundesdeutsche Gesellschaft an
ihre Verpflichtung gegenüber den Brüdern und Schwestern aus dem Osten. Es gelte, so Kohl in seiner Rede vor dem Bundesparteitag, „den dümmlichen Stammtischparolen“ entgegenzutreten, die DDRler kämen nur, weil es ihnen in der BRD materiell besser gehe. Es handele sich nicht um Menschen, die es sich in der sozialen Hängematte des Westens bequem machen wollen. Vielmehr sei der Wunsch nach Meinungs und Bewegungsfreiheit das entscheidende Motiv für die Übersiedler aus der DDR.
Der Abgeordnete der Grünen, Wilhelm Knabe, forderte die Neuankömmlinmge denn auch gleich auf, ihre Neugewonnene Meinungsfreiheit in Bürgerinitiativen und Gewerkschaften konkret einzubringen. „Wer aus Verzweiflung über die fehlende Mitbestimmung hierherkam, kann sich hier in die Politik einbringen“.
Ganz so schnell wird es für die Übersiedler aber wohl nicht gehen. Nach ihrer Ankunft in Bayern wird jeder Ex-DDRler registriert und erhält einen Laufzettel für die Behörden. Wenn sie eine Unterkunft gefunden haben, müssen sie sich bei einer Leitstelle melden und dort erst einmal einen Fragebogen ausfüllen. Danach werden sie über die einzelnen Bundesländer nach einem festgelegten Schlüssel verteilt. Erst nach diesem Verfahren erhalten sie bundesdeutsche Papiere und können sich dann an die zuständigen kommunalen Behörden wenden.
JG
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