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Arktischer Winter entläßt Exxon aus der Pflicht

Sechs Monate nach der Ölkatastrophe in Alaska zieht der Ölmulti seine Reinigungstruppen ab / Umweltbehörden drohen mit Auflagen oder bitten zur Kasse / Schaden der Putzaktion größer als der Nutzen / Soziale Folgen der künstlichen Vollbeschäftigung verheerend  ■  Von Henk Raijer

Berlin (taz) - Wenn in diesen Tagen der Ölgigant Exxon (Esso) seine Truppen und gesamte logistische Basis aus dem Prinz-William-Sund abzieht, weil die einsetzenden arktischen Winterstürme die Anstrengungen zur Beseitigung des Öls an Alaskas Kiesstränden und Felsküsten zu gefährlich machen, wird zumindest die Bevölkerung von Valdez tief durchatmen. Seit mehr als fünf Monaten gleicht ihre Stadt einem Heerlager. Tausende waren seit den frühen Apriltagen dem Lockruf des schnellen Geldes gefolgt und hatten die Einwohnerzahl in wenigen Wochen von 2.854 auf ca. 16.000 anschwellen lassen. Die Sogwirkung von 16,69 Dollar pro Stunde reichte bis weit über Anchorage hinaus: In verrosteten Chevys, Wohnmobilen und verbeulten Pick-ups waren sie den Alcan-Highway heraufgekommen, aus Idaho, Kalifornien und Utah, auf der Suche nach den „big bucks“, die Exxon angeblich jedem zahlte, der helfen wollte, den schwarzen Fleck auf des Multis weißer Weste zu beseitigen.

Morgen, am 15. September, wird der Konzern, dessen Mammuttanker „Exxon Valdez“ in der Nacht zum Karfreitag aufgeschlitzt auf dem Bligh-Riff lag und 42 Millionen Liter Rohöl aus seinem Schlund entließ, seine in der Geschichte der globalen Umweltkatastrophen beispiellose Reinigungsanstrengung offiziell beenden. Die ersten Hundertschaften, die auf Exxons Lohnliste standen, wurden bereits Ende August nach Hause geschickt. Möglichst unauffällig sollen auch die restlichen 13.000 Frauen und Männer, ein Viertel von ihnen aus den „Lower 48“ (wie die Menschen aus Alaska den Rest der USA nennen), die Buchten von Kodiak bis Valdez verlassen - ob bis zum nächsten Frühling oder endgültig, darüber liegen sich die Houstoner Führungsetage und Alaskas Umweltbehörden heftigst in den Haaren.

Streit zwischen Exxon

und Behörden

„Wir wollen nicht nur, daß sie nächstes Jahr wiederkommen, wir wollen auch, daß sie über den 15. September hinaus arbeiten“, sagt Joe Bridgeman, Sprecher des Umweltministeriums von Alaska. Seine Behörde hat die Zahlenangaben von Exxon durchgerechnet und ist zu dem Schluß gekommen, daß der Konzern mehr Küste gesäubert haben will, als überhaupt jemals verseucht wurde; nach eigenen Angaben hat das Unternehmen 90 Prozent der insgesamt 1.073 verschmutzten Meilen in einen „umweltmäßig stabilen, wenn nicht gar sauberen Zustand“ gebracht und angeblich acht Millionen Liter Öl und öligen Wassers - das sind ca. 25 Prozent - abgesaugt. Das sehen die alaskanischen Umweltbehörden und die Küstenwache freilich ganz anders: 520 Meilen wurden von der Küstenwache als „behandelt“ akzeptiert, was nicht heißt, daß diese Küstenstreifen nun sauber sind. Sie werfen der Unternehmensleitung vor, daß sie von Anfang an nur ihr selbstgesetztes Ziel, die „Behandlung“ von x Meilen Strand, und nicht etwa die Umwelt im Auge gehabt habe. „Das Wetter zwingt uns sowieso zum Weggehen, egal wie die Zahlen sind, egal, wieviel unerledigt geblieben ist“, so Exxon-Sprecher Bleu Beefheart auf die Vorwürfe. Der Chef der US-Umweltbehörde, Reilly, stellte Anfang dieser Woche Exxon vor die Alternative: Weiterschrubben oder die Regierung fürs Schrubben bezahlen.

Einziges Know-how war Geld

Annähernd zwei Milliarden Dollar wird das größte Industrieunternehmen der Welt am Ende ausgegeben haben, um der Natur zu zeigen, was eine Harke ist. Mit Hilfe der US -Kriegsmarine, mit Hubschraubern, Kleinflugzeugen, Fischerbooten und hydraulischen Kränen auf der einen, Menschen, Wasserschläuchen, Schrubbern und Feudeln auf der anderen Seite hat Exxon es verstanden, das ökologische Desaster in eine militärische Herausforderung umzudeuten weniger aus Entschlossenheit denn aus Hilflosigkeit. Dabei war Geld das einzige Know-how, das der Ölmulti aufzubieten hatte im Kampf gegen die hausgemachte Katastrophe. Exxon verströmte Dollars wie vorher das Öl, jeder kriegte was ab. Die unfreiwillig arbeitslosen Fischer wurden gegen 3.000 Dollar Entschädigung pro Tag eingekauft, ihre Boote zweckentfremdet zur Ölbeseitigung abzustellen. Darüber hinaus hat die Firma mittlerweile 400 von 600 Schadensersatzansprüche von Fischern befriedigt. 68 unabhängige Meeresforschungsinstitute bekamen den gutdotierten Auftrag, den „oil spill clean-up“ zu überwachen und die Folgen für die Umwelt zu erforschen. Gegner wurden zu Bundesgenossen geschmiert. In Seward und Valdez finanzierte der Konzern mehrere „Vogel-“ und „Otterrettungszentren“, deren freiwillige Helfer in den speziell entwickelten Tierasylen Otter, Seelöwen, Adler und Möwen schrubbten und fönten, bis schließlich auch ihre Gewissen porentief rein waren. Schließlich präsentierte das Ministerium für Touristik dem Konzern eine Rechnung über vier Millionen Dollar für seine Blitzkampagne zur Wiederherstellung von Alaskas unbeflecktem Image.

Der Erfolg der Operation war von Anfang an zweifelhaft. Höchst umstritten war nicht nur die Methode, die Felsen abwechselnd mit heißem und kaltem Wasser abzuspritzen, zumal sich das meiste Öl ohnehin schon auf natürliche Weise verflüchtigt oder in den Sedimenten unter Wasser abgelagert hatte; auch der Effekt war langfristig gesehen gleich Null. Die Meeresbiologin Sharon Christopherson von der „National Oceanic and Atmospheric Administration“ (NOAA) beurteilt die monatelange Behandlung als reine Kosmetik: „Auch wenn Exxon angibt, den gleichen Küstenstreifen zehnmal behandelt zu haben, die immer wieder auftauchenden Rückstände werden zu Teer gerinnen und die Strände über den Winter in riesige Parkplätze verwandeln.“

Selbst Einsatzleiter sinnierten laut über Sinn oder Unsinn des Exxon-Kriegsspiels in Alaskas unberührter Natur. Scott Nauman, Chefkoordinator von „Planquadrat 4“, urteilte schon vor vielen Wochen: „Es wäre besser, den ganzen Aufwand bleiben zu lassen und 'mother nature‘ den Job zu überlassen. Aber Abwarten ist nun mal schlechte PR.“ Der Schaden der Operation ist womöglich größer als der Nutzen; denn was das Rohöl aus dem havarierten Tanker nicht schaffte, hat inzwischen der Postkatastropheneinsatz des Multis besorgt: Mit einfachem Spüli, dem speziell entwickelten Lösungsmittel Corexit 9580 und Wasserkuren wurde auch den letzten überlebenden Meereslebewesen der Garaus gemacht. Und der Dieselkraftstoff, der durch die Maschinen all jener Heiz-, Saug- und Mannschaftsboote gejagt wurde, fügte dem Ökosystem möglicherweise weit größeren Schaden zu als das ausgelaufene Rohöl. Mal ganz abgesehen davon, daß sich an den Stränden der jetzt wieder verlassenen Buchten im Prinz-William-Sund vermutlich auf Jahre hinaus kein Grizzly und kein Seeotter mehr zeigen wird - soweit sie Öl und Streß überlebt haben. Seit März wurden 33.126 tote Vögel, davon 146 Weißkopfadler, registriert. 990 Otter-Kadaver wurden geborgen. Zehn Prozent der eingelieferten Tiere konnten bisher geheilt entlassen werden. Auf 300.000 schätzen WissenschaftlerInnen die Zahl der nie gefundenen Tiere, die getötet wurden oder noch sterben müssen.

Boom and bust

Es ist nicht nur das Öl, das Menschen wie Tiere gleichermaßen traumatisiert hat. Die vielen Dollars, der kurze „Boom“, haben das wirtschaftliche und soziale Leben in Valdez aus dem Gleichgewicht gebracht Die, die bisher immer gut verdient hatten, guckten diese Saison in die Röhre, und ortsfremde Wanderarbeiter verdienten plötzlich das Dreifache eines durchschnittlichen Monatsgehalts. Mit dem Abzug der mehr als zehntausend Arbeitskräfte werden die Dollars aus Valdez verschwinden, nicht aber die Probleme, die sie verursacht haben. Geschäftsleute werden Mühe haben, ihre Löhne, die bis auf zwölf Dollar für Hilfsarbeit geklettert waren, wieder auf „normales“ Niveau zu drücken. Die Arbeitslosenquote - im März noch bei 14,5 Prozent - war bis Anfang September auf 1,6 Prozent gesunken. Streß, Depressionen und wachsende Animositäten zwischen Fremden und Einheimischen, aber auch unter den ansässigen Familien haben schon heute die Statistik der psychologischen Beratungsstellen um 300 Prozent in die Höhe getrieben. Auch die Verbrechensrate stieg um 300 Prozent.

Die BewohnerInnen der Indianersiedlung Tatitlik, wenige Meilen südöstlich von Valdez, sonst zur Vorbereitung auf die kurzen Wintertage mit Holzsammeln und Lachsräuchern beschäftigt, arbeiten seit April für 16,69 pro Stunde überhaupt das erste Mal für Geld. Im kommenden Winter müssen sie sich wohl oder übel ausschließlich von überteuerten und vergammelten Lebensmitteln aus dem einzigen Laden des Dorfes ernähren.

„I survived the Oil Spill Clean Up“, steht auf einem T -Shirt, das nicht wenige „Freiwillige“ als Erinnerung an eine wirklich einmalige Operation aus Valdez mit nach Hause nehmen werden. Für sie steht außer Zweifel: Sie haben etwas Großes vollbracht. Die Verantwortung für das Trauma trägt ja angeblich ein betrunkener Captain, und der wird sich ab 30. Oktober vor Gericht zu verantworten haben. Vielleicht gehören einige von ihnen sogar zu jenen 39.000, die sich dem Boykott gegen den Ölmulti Exxon (Esso) angeschlossen und ihre Kreditkarte zurückgeschickt haben.

An Alaskas Küsten wird morgen Ruhe einkehren, geputzt und gebohnert wird ab sofort nur noch in den Gerichtssälen von Anchorage. Nur gut, daß sich Verantwortung delegieren läßt.

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