piwik no script img

KAKI LIMA

■ Straßenhändler in Indonesien

Wenn um die Mittagszeit die Sonne über Pasar Minggu, einem Vorort von Jakarta, im Zenit steht und von fern der Klang einer Messingglocke ertönt, weiß die sechsjährige Sari genau, was die Stunde geschlagen hat. Auch ihrer Mutter ist das Glockenbimmeln vertraut. Sie holt ihr Portemonnaie hervor und fischt eine 100-Rupiah-Münze heraus. „Terima kasih“, mit einem Dankeschön nimmt Sari das Geldstück entgegen, schlüpft in ihre Gummisandalen und läuft in die Richtung, aus der das Klingeln nun lauter ertönt. Mit einem Mal verstummt es ganz, und man hört nur noch das Quietschen von schlecht geölten Rädern. „Das ist der Eismann“, erklärt die Mama, „er kommt jeden Tag um diese Zeit.“ Und da biegt er schon um die Ecke, umringt von einer Schar Kinder. Aus einer Kühlbox holt der tukang eskrim ein Eis am Stiel, reicht es Sari, nimmt die Münze, wechselt ein paar Worte mit der Mutter und schiebt dann seinen zweirädrigen Karren weiter. Mit einer lauten Gummihupe kündigt sich bereits sein Konkurrent an, der tukang cendol, der ein Getränk aus fein geraspeltem Stangeneis mit grellbunt gefärbten Gelatinestückchen verkauft. Beim Näherkommen schlägt er zusätzlich mit einem Löffel gegen ein Glas, um Kundschaft anzulocken.

Will man in Indonesien einkaufen, so muß man deswegen nicht unbedingt zum Markt gehen, der Markt kommt zu einem ins Haus. Scharen von „fliegenden Händlern“ (pedagang kaki lima) halten in Stadt und Land die Versorgung der Haushalte mit Lebensmitteln und allen nur denkbaren Artikeln des täglichen Gebrauchs aufrecht.

Die Bezeichnung kaki lima (wörtlich „fünf Fuß“) für den Straßenhandel in Indonesien ist alt. Als Maßeinheit geht sie zurück auf die Zeit, als die Kolonie „Niederländisch -Ostindien“ unter englischer Verwaltung stand. Die Briten führten damals nicht nur den Linksverkehr ein, sondern erließen auch ein Gesetz, das für alle Straßen in den Städten Bürgersteige vorschrieb, mit einer Höhe von 30 Zentimeter und einer Breite von 150 Zentimeter bzw. „fünf Fuß“ oder eben kaki lima. Auf diesen Trottoirs ließen sich die Straßenhändler (besser „Bürgersteighändler“) nieder und boten den Passanten ihre Waren und Dienstleistungen an.

Unter den „Fünffüßigen“ bilden die Essensverkäufer heute noch eine Zunft für sich. Sie bieten nicht nur überall und jederzeit schmackhafte und vor allem billige Zwischenmahlzeiten an, sondern verbreiten auch die aktuellsten Neuigkeiten und den letzten Klatsch. Frühmorgens schon kommt die erste Garküche angefahren. Eine dicke Reissuppe mit Hühnerfleisch dampft im Kessel. „Bubur ayam!“ schallt die Stimme des Verkäufers durch die Siedlung, und alle Leute wissen bei diesem Ruf ebenso Bescheid wie abends, wenn der tukang sate mit durchdringenden „teh, teh„ -Rufen die Aufmerksamkeit auf sich und seine auf Holzkohle gebratenen Fleischspieße zu lenken versucht. Unüberhörbar ist auch der bakso-Händler, der auf ein hohles Stück Holz klopft, um mit seinem „Klackklackklack“ für Suppe mit kleinen Bällchen aus Hackfleisch, Huhn oder Fisch zu werben. Ein metallisches „Tingtingting“ schließlich verrät, daß der bakmi-Mann, der Nudelverkäufer, im Anmarsch ist. Rhythmisch schlägt er einen Löffel gegen einen seiner Kochtöpfe. Ob Rufen, Klopfen, Klappern oder Hupen - die mobilen Essensverkäufer haben allbekannte Signale. Ohne auch nur aufschauen zu müssen, wissen die Bewohner eines Viertels, wer da was offeriert.

Im geschäftig-geschäftlichen kaki-lima-Treiben mischen auch noch andere mit. Nicht nur wandernde Minigarküchen gehören zum Straßenbild. Es gibt wohl kaum etwas, das man unter indonesischer Sonne zum Leben braucht, was nicht schnellfüßig ins Haus geliefert wird. Mit einem langgezogenen „minyaaaak“ zieht der Verkäufer von Speiseöl, zwei Blechkanister geschultert, durch die Straßen, während der Bürsten- und Besenhändler mit einem charakteristischen „sapuuuu“ auf sich aufmerksam macht. Lebende Fische bringt der tukang ikan in Körben, die mit Pech wasserdicht gemacht sind. Immer wieder ziehen Obstverkäufer vorbei und bieten mit lauten Rufen die Früchte der Saison an. Unübersehbar im bunten Gewühl der Straßen sind die krupuk -Verkäufer. Die zwei großen Blechgefäße, die sie an wippenden Holzstangen über der Schulter balancieren, enthalten leicht salzige, knusprig gebackene Fladen aus Fisch- oder Krabbenmehl.

Aber auch andere Dienstleistungen werden angeboten. An der Ecke hat ein Messer- und Scherenschleifer seinen Stand aufgebaut, nicht weit davon entfernt ein Reifenflicker. Während dieser in seiner Freiluftwerkstatt den Fahrrad- oder Motorradreifen repariert, kann der Kunde sich nebenan bei einem ambulanten Straßenfriseur im Schatten eines großen Baumes die Haare schneiden lassen und zur gleichen Zeit einem Schuster seine durchgelaufenen Schuhe zum Besohlen übergeben.

„Reich“ kann man als „Fünf-Fuß-Händler“ nicht werden. Der Umsatz eines Verkäufers beträgt etwa 10.000 Rupiah am Tag, also etwas mehr als zehn Mark, wenn er ein eingeführtes Geschäft mit Stammklientel in einer wohlhabenden Wohngegend hat. Obwohl er damit bereits zu den Besserverdienenden am Straßenrand gehört, reicht das nach Abzug aller Unkosten verbleibende Geld gerade zum (Über-)Leben für ihn, seine Frau und vielleicht zwei oder drei Kinder. Geld für Kleidung, Schule und andere „Extras“ wirft eine Garküche meist nicht ab. Deshalb muß oft die Ehefrau mit dazuverdienen, indem sie beispielsweise Reiskuchen oder gebackene Bananen verkauft.

Fast alle dieser kleinen Händler, Verkäufer und anderen „Fünffüßigen“ zählen zur Kategorie der latent Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten im Dienstleistungsbereich. Sie befinden sich auf einer permanenten Gratwanderung zwischen Gelegenheitsjob und Betteln. Der Prozentsatz der real Arbeitslosen wäre aber noch wesentlich höher, wenn nicht eine große Zahl der Arbeitsfähigen diesen schlecht bezahlten Beschäftigungen im weiten Feld der sogenannten „informellen Ökonomie“ nachginge. In den Ballungszentren Indonesiens umfaßt der „informelle Sektor“, jene breite Grauzone zwischen traditioneller Subsistenzwirtschaft und moderner Geldökonomie, dem neben den „Fünf-Fuß-Händlern“ auch Rikschafahrer, Tagelöhner und Prostituierte zugerechnet werden, bereits 40 bis 50 Prozent aller Erwebstätigen. Die Behörden stehen dieser Art von „Vokswirtschaft“ zwiespältig gegenüber. Einerseits heißt es, die kaki-lima-Händler sollen künftig staatliche Förderung bekommen, andererseits werden insbesondere in Jakarta immer wieder Straßenhändler, die noch keine Lizenz erhalten haben, von der Polizei aufgegriffen und von Gerichten zu empfindlichen Geldstrafen verurteilt.

Roland Dusik

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen