"Ich bin das oberste Organ dieses Staates"

■ Momentaufnahmen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat am Beispiel Leizig/In den Basisgruppen ist von Aufbruch nichts zu spüren, aber auch die Stasi ist nicht mehr, was sie mal war

Gelegentlich hält Horst, seit 30 Jahren Bürger der Hauptstadt der DDR, es mit Goethe: „Mein Leipzig lob ich mir! Es ist Klein-Paris und bildet seine Leute.“ So verbringt der Zeitgenosse seine Ferien in der Pleißestadt, auch wenn der Arbeiter- und Bauernstaat den zweiten Satz aus der Werbung gestrichen hat und Leipzig bescheiden als „erste Adresse für Welthandel und Dialog“ präsentiert. Da „fühle ich mich als Weltbürger angezogen“. Nach Osten darf er seit geraumer Zeit nicht mehr reisen - „unerwünscht“. Und der Staat, in dem die Messestadt als „heimliches Zentrum des Protestes“ gehandelt wird, gehörte bislang nicht zu Horsts Traumzielen.

Rappelvoll ist die Kirche der reformierten Gemeinde. Fast eine Stunde hat der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer das Publikum mit seinem Plädoyer für eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ erheitert und gefordert. Erst die vierte Bitte des Moderators um Disziplin läßt den Beifall verstummen. Ein älterer Mann, der sich wohl daran erinnert, daß Schorlemmers Vortrag bereits vor über einem Jahr in Form jener zwanzig „Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft“ auf dem Kirchentag in Halle publik wurde, tritt ans Mikro. „Haben Sie denn Hinweise dafür, daß die führenden Denker des Landes mit Ihnen ins Gespräch kommen wollen?“ will er wissen. Schorlemmer schmunzelt. „Das denke ich eigentlich, aber ich bin nicht beteiligt worden.“

Anstelle eines direkten Meinungsaustausches ließ der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung im Dezember zu Protokoll geben: „Den verantwortungslosen Erneuereraposteln der Kirche, die ihre persönlichen Rezepte über BRD-Medien als Meinung der Christen unseres Landes anzubieten versuchen, sagen wir klipp und klar: Die DDR-Bürger lassen sich nicht zum Kapitalismus zurückreformieren.“ Bitteres Gelächter.

Die Stunde der Skeptiker schlägt. „Wenn Honecker sagt, den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf, dann zeigt das doch, daß die SED nicht zu sachgerechten Antworten fähig ist.“ Davon scheint die Mehrheit im Saal überzeugt. Es ist der einzige gemeinsame Nenner in dem erregten, chaotischen Wortwechsel. Den „blödsinnigen Begriff Sozialismus streichen“, einen „bunten Sozialismus verwirklichen„; ganz „fix eine Oppositionspartei gründen“, lieber erst mal „in Familie und Betrieb die Wahrheit verbreiten„; „wir sind doch heute viel mehr als früher“, Pustekuchen, „seit zehn Jahren drehen wir uns in der Kirche und in den Gruppen im Kreis“ - so wogt es zwei Stunden hin und her.

Verwirrte Blicke wirft die Kellnerin auf den schwarzgelockten Gast. „Sie wollen kein Fleisch? Wirklich kein Fleisch?“ Nein, Horst bleibt standhaft, es soll eine Gemüseplatte sein. Nach längeren Verhandlungen läßt der Koch fragen: „Was wünschen Sie als Sättigungsbeilage?“ Mit den sprachlichen Errungenschaften des Sozialismus auf du und du, antwortet Horst prompt: „Bällchen.“

Während er die Kroketten mampft, klärt er die Geheimnisse des Messeprospektes auf: Hinter einer „Komplex -Annahmestelle“ verbirgt sich möglicherweise eine Reinigung. Die ausleihbare „Luftdusche“ kommt in etwa einem Fön gleich. Was man mit einer „Schlagwerksmühle“ anstellen kann, weiß Horst indes nicht.

Ausreiser beim Friedensgebet

Fast niemand aus den rund 20 Basisgruppen und Initiativen in Leipzig beteiligt sich an der Diskussion mit Pfarrer Schorlemmer, die von der AG Umweltschutz organisiert wurde. Gemeinsame Debatten über ihre Perspektiven scheinen nicht die Stärke der Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen zu sein. Gleichwohl blicken sie in diesem Jahr auf eine lange Liste von Aktionen in der sächsischen Provinz zurück.

Zu den seit Frühjahr von den Basisgruppen mitgestalteten Friedensgebeten versammeln sich regelmäßig am Montag mehrere hundert Personen. In der Mehrzahl sind es Ausreisewillige, die auf diese Weise die Bearbeitung ihrer Anträge beschleunigen wollen. Gottesdienste oder Fahrradstafetten für die Verfolgten in der CSSR stoßen hingegen auf minimales Interesse. Am Tag der Kommunalwahlen, dem 7. Mai, demonstrierten über tausend Menschen in der Innenstadt. Mehr als hundert wurden festgenommen. Am folgenden Tag protestierten 500 Personen gegen die festgestellte Wahlmanipulation. Danach lautete das Fazit der AG Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit: „An Demonstrationen mit klar formulierten Zielen nehmen immer mehr Nichtantragsteller teil. Die Antragsteller veranstalten ihre eigenen Demonstrationen.“ In dieser Einschätzung bestärkte die Umweltschützer der „Pleißemarsch“ im Juni. 500 LeipzigerInnen wandten sich gegen die Verschmutzung der Pleiße, einer der verdrecktesten Flüsse der DDR.

Nachdem Stasi und Polizei bei vorausgegangenen Aktionen stets schnell und kräftig zugegriffen und verhaftet hatten, hielten sie sich beim verbotenen Straßenmusikfestival am 10. Juni zunächst zurück. Mehrere Stunden von der Staatsmacht unbehelligt, belebten wenige Tage später diverse Musik- und Theatergruppen die Innenstadt. Weil das Fest untersagt war, endete es für über hundert TeilnehmerInnen auf der Wache. Musikanten zahlten bis zu 1.000 Mark Ordnungsstrafe.

Nach der Sommerpause - die Kirche hatte das wöchentliche Friedensgebet abgesetzt - macht Leipzig im Westen erneut als „heißes Pflaster“ Schlagzeilen. Zuletzt in der vergangenen Woche mit der politisch gespaltenen Demonstration vor der Nikolai-Kirche. Nur eine verschwindende Minderheit wollte nicht „freie Fahrt nach Gießen“, sondern Veränderungen in der DDR.

Toleranz ist auch in Basisgruppen

ein Fremdwort

Keine 24 Stunden kann die Staatsmacht ihre Neugier zügeln. Zielstrebig steuert der Dicke in Uniform auf das parkende Auto zu, verlangt die Papiere. Wortlos notiert der Polizist die Adressen. Auf die Frage der Westperson, mit welchem Recht und auf welcher Grundlage er das mache, antwortet der Mann nur: „Das ist unsere Sache.“ Horst kennt diese arrogante Null-Antwort zur Genüge. Aber sie wurmt ihn, und das Ohnmachtsgefühl macht ihn nervös. „Da kriegst du doch Minderwertigkeitskomplexe. Mit meinem Paß können sie mich ohne weiteres einen Tag einsperren.“

Während der Diskussion um die von Schorlemmer skizzierten Reformschritte verharren viele „Aktivisten“ schweigend - die meisten sind erst gar nicht hingegangen. Katrin zum Beispiel, die wenige Stunden vorher noch in der ersten Reihe der mißglückten Demonstration stand, eilte von dort „unwahrscheinlich frustriert“ nach Hause. Sie und ihre Freunde „hatten nicht damit gerechnet, daß die Ausreiser nur ihre Fingerchen in die Kameras halten wollten. Allein wollten und konnten wir nicht weitergehen.“ Nicht nur diese Enttäuschung hielt die 20jährige Studentin von dem Veranstaltungsbesuch ab. „Theoretische Arbeit“ schätzt sie sehr, „aber das ist nicht so mein Ding“.

Ihr „Ding“ war der Hungerstreik Ende August. Nach vier Monaten zermürbender Diskussion mit Verwandten und Bekannten begannen Katrin und zwei Freunde zu fasten - „als Zeichen eines möglichen Neuanfangs“ gegen das „System der Bevormundung“. „Nach 30 Stunden verließen wir verzweifelt die Kirche.“ Uneinigkeit in der Gruppe erleichterte es Geistlichen, den staatlichen Druck wirksam weiterzuleiten. Katrins Konsequenz: „Obwohl man was macht, treibt es einen auf Dauer in die Resignation. Andererseits, wenn ich nichts machen würde, verliefe der Prozeß genauso, nur sehr viel schneller.“

Während Katrin diese pathetisch klingenden Sätze mit tonloser Stimme sagt, singt Joan Baez vom Plattenteller. Wenn da nicht eine Broschüre mit dem Titel „taz lügt“ auf dem Matratzensofa läge, könnten Freunde sich in den sechziger Jahren wähnen, jedenfalls nicht im Zimmer einer ostdeutschen Autonomen. Als solche begreift sich Katrin.

Sie hält nichts von den Basisgruppen, weil „manche in sich ein Politbüro aufgebaut haben und sich gegenseitig im persönlichen Kleinkrieg kaputt machen“. Toleranz sei ein Fremdwort für die Gruppen. Ein wenig erinnert dieses Bild an die westdeutsche ML-Szene der siebziger Jahre, die in Sektierertum und Auflösung unterging. „Bei uns könnte es mit der Ausreise enden“, beschreibt Katrin eine Perspektive des linken Ghettos Leipziger Prägung, „wenn die Gruppen es nicht rasch schaffen zusammenzuarbeiten.“ Eine Perspektive, die für nicht organisierte DDR-KritikerInnen greifbar nahe zu liegen scheint. Ohne sich selbst explizit auszuschließen, prognostiziert Katrin, daß „viele von denen, die keinen Rückhalt in einer Gruppe haben, den anderen viel Glück wünschen werden, aber sich verabschieden mit dem Satz: 'Ich setz mich auf einen Esel in Italien.'“

Parkplätze sind während der Leipziger Messe besonders rar. Nach Horsts Beobachtungen muß man den beiden grimmig dreinschauenden Wächterinnen mindestens ein Zwölferpack Haselnußcreme anbieten. Weil er das nicht hat, quetscht er den Polo in eine winzige Lücke im Halteverbot. Kurbelt gelassen am Lenkrad und hält der westdeutschen Sorge um den Kotflügel entgegen, „daß der größte Volvo einen kleineren Wendekreis hat als der Trabant. Wenn du das nicht weißt, kennst du nicht die Probleme, die den DDR-Bürger belasten.“

Katrin wohnt im Leipziger Osten, dort wo laut „Stadtführer“ der „kapitalistische 'Arbeiterwohnungsbau‘ ein Erbe hinterlassen hat, das nur mit größten Anstrengungen und Schwierigkeiten zu bewältigen ist“. Klug wie der Sozialismus ist, hat er fast vierzig Jahre das Erbe nicht angerührt. Nun kann er das Übel an der Wurzel packen - Abriß. Der geht seinen sozialistischen Gang: Wenn es oben reinregnet, wird „entwohnt“ und unten ein Gerüst gegen Steinschlag aufgestellt. Aus dem Keller kriecht die Nässe ins Parterre. Mit Beziehungen, sprich: durch Beschiß funktioniert dann der Umzug in eines der „Arbeiterschließfächer“ der Neubausiedlung. Den Hausflur des Altbaus, wo der nackte Ziegel den Gast begrüßt, fegen zuletzt die Bewohner der mittleren Etage - oft jahrelang, aber stets blitzblank.

Betonlöcher kein Thema

Daß die menschenunwürdigen Löcher für einen der geistigen Köpfe jener Erneuerer-Bewegung kein Vortragsthema sind, mag vielleicht einleuchten. Daß jemand wie Katrin über anderes nachdenkt, auch noch. Aber selbst für die im Stadtteil Volkmarsdorf beheimateten Gruppen erschöpft sich das Problem mit der Gewißheit, daß „die uns ja andere Räume zuweisen“. Immerhin, ein anonymer Text beschreibt das Augenfällige: „Es gibt Häuser, die im Erdgeschoß schon verwüstet werden, während weiter oben noch einzelne Menschen auf die Zuweisung neuen Wohnraums oder den Tod warten.“ Die größte Sorge der Autoren indes gilt der Erhaltung und Renovierung der Lukaskirche, die als einziges Gebäude im Umkreis vom Abriß verschont wird.

Unweit dieses Gotteshauses lebt Vikar Peter mit Frau und Kind in einer Zwei-Zimmer-Bude, die sie wegen der Feuchtigkeit auch im Sommer beheizen. Aus der „rekonstruierten“ Altbauwohnung, die sie früher bewohnte, mußte die Familie raus: „Schon ein Jahr nach der Sanierung setzten die Wänden Schimmel an.“

Peter hat mehrfach gegen den geplanten Bau des vierten Atomkraftwerkes in der Umgebung von Leipzig protestiert „weil das etwas Handfestes ist“. Politik in seinem Viertel? Nein, „mich stört viel, aber ich bin kein kämpferischer Mensch, und Eingaben an die Staatsorgane sind ohnehin zwecklos.“

Die Familie hat sich mit dem Mangel eingerichtet. Der macht sich immer stärker in der Infrastruktur des Stadtteils bemerkbar. So fährt Ehefrau Monika mit dem fiebrigen Sohn kilometerweit mit der Straßenbahn, zum nächsten Kinderarzt. Beim letzten Mal dauerte es fünf Stunden, bis sie vom Wartezimmer ins Sprechzimmer vorgedrungen war. In Volkmarsdorf, wo über 100.000 Menschen leben, gibt es keinen dienstfähigen Kinderarzt mehr: Der eine ist Invalide, der zweite Alkoholiker und der dritte ausgereist.

Zur Messezeit sind die Probleme nicht ganz so groß, jedenfalls endet nicht jede dritte Straßenbahnfahrt an irgendeiner Umleitung. Der Bahnhof ist entrußt, das Hotel Astoria unten neu gestrichen, und die meisten Häuser in der City strahlen nach dem Abspritzen in neuem Grau. Schlangestehen für Eis oder eine Stiege Pflaumen lohnt sich. Der gemeine Sachse ist überzeugt, daß während der Messe einige Betriebe die Produktion einstellen. Es stinkt nämlich nicht wie sonst nach Katzendreck, Farbe oder Hefe.

Verbesserung des Alltags verspricht sich manch Leipziger im ehemals „roten Osten“ der Stadt von Honeckers Idee, Im Jahre 2004 Leipzig mit olympischem Feuer zu erhellen. Dieser Gedankenblitz ereilte die SED, nachdem die Westberliner CDU und SPD vorgeschlagen hatten, beide Teile der Mauerstadt sollten sich gemeinsam für das Spektakel bewerben. „Dann wird endlich was für uns getan, und es geht nicht immer alles nach Berlin“, frohlocken die vom Hauptstadt-Syndrom Geschädigten, ohne an die immensen Infrastrukturkosten zu denken. Dagegen hält der Vikar: „Die DDR ist ja bekannt für Pyrrhus-Siege. Es wäre nicht der erste, aber dieser würde uns in den Ruin treiben.“ Ob vielleicht ein Kommunalpolitiker bereits das Gegenteil errechnet hat, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Nach mehrtägigen Verhandlungen mit dem DDR-Außenministerium zwecks eines Gespräches mit lokalen Verantwortlichen vertröstet der „1. Sekretär für journalistische Beziehungen“ die taz auf den Besuch der Leipziger Frühjahrsmesse. (Wir werden darauf zurückkommen, Genosse.)

Noch viel Nerven

bis zum runden Tisch

Horst sucht nach dem richtigen Bildausschnitt für das halb verfallene Haus. Da schießt ein vielleicht Sechzigjähriger auf ihn zu: „Wo ist Ihre Berechtigung zu fotografieren?“ Die brauchte der DDR-Bürger bisher nicht für Wohnhäuser. „Wenn Sie nicht vorzeigen, kommen Sie mit zur Polizei. So Leute wie Sie verkaufen Fotos von unseren Schmutzecken in den Westen.“ Horst lacht über die harsche Selbstkritik. Das bringt den Alten in Rage. „Kommen Sie mit.“ Jetzt wird es Horst zu bunt: „Mit welchem Recht sprechen Sie mich überhaupt an. Wer sind Sie?“ Da zückt der Alte seinen SED -Ausweis und giftet in vollem Ernst: „Ich bin das oberste Organ dieses Staates. Sie gehen jetzt mit zur Polizei.“ Horst rät dem um anderthalb Köpfe Kleineren von einer öffentlichen Kraftprobe ab und trollt sich. Fünf Minuten später flitzt ein Polizist in Uniform in den Hinterhof, in dem Horst Unterhosen auf der Wäscheleine knipst. Der verweigert jede Auskunft. „Sie, ich bin freischaffender Fotograf. Das wird ein Nachspiel haben.“ Dem Polizisten ist der Auftritt des Hilfssheriffs peinlich. Er zieht ab. In einem nachträglichen Wutanfall rauft Horst sich die Haare: „Was das noch für Nerven kosten wird, bis wir mit dieser Partei am runden Tisch sitzen werden.“

Unter viel Beifall hatte Schorlemmer in seinem Vortrag kritisiert: „Zuviele warten in diesem Land, daß sich etwas ändert.“ Damit griff er auch die „selbstbemitleidende Mentalität“ der Unzufriedenen an. Von den Zufriedenen, die nicht nur Willi Stophs Urgroßvater-Generation oder der Stasi angehören, sprach er mit keiner Silbe. Warum nicht? Weil es eine Minderheit ist? Weil die Auseinandersetzung nicht lohnt?

Die 16jährige Nina ist mit der Schulklasse für einen Tag von Plauen zur Messe gereist, „weil es hier so schöne Sachen zu sehen gibt, vor allem der Schmuck, herrlich“. Im Unterschied zu ihrer Freundin Beate hat sie keine Verwandten in Westdeutschland, denkt schon deshalb nicht an Ausreise und trägt auch kein Benetton-Sweatshirt, sondern einen selbstgestrickten Pulli. „Der sieht doch nicht schlecht aus“, mosert sie ihre Freundin an, der „es manchmal weh tut, daß alle schönen Sachen für den Export produziert werden“. An der DDR gefällt Nina, daß sie demnächst zur Pionierleiterin ausgebildet wird. Den Hinweis von Beate, daß „der Job einem nachgeschmissen wird, weil's keiner machen will“, überhört die FDJlerin.

„Danke, Genossen,

für eure Wachsamkeit“

Von dieser Nachwuchsorganisation ausgezeichnet, reiste sie zweimal in die Sowjetunion, „das kann sich doch bei Ihnen kaum einer leisten. Und mit 20 muß man ja auch noch nicht soviel reisen.“ Von einem Wochenendtrip nach London - Beates Tante schickte kürzlich eine Postkarte - träumt Nina nicht. Träumt sie überhaupt?

Besser als in der BRD sei die Gesundheitsversorgung. Ihre Mutti ist zweimal kostenlos operiert worden. „Das muß man bei Ihnen doch bezahlen“, davon ist sie felsenfest überzeugt. Daß man in der DDR „seine Meinung nicht sagen kann, ohne einen auf den Deckel zu kriegen“, wie Beate kritisiert, hält die Freundin für „Quatsch, einfach Quatsch“. Und wenn in der Versammlung „jemand sitzt und aufpaßt, daß da nichts gegen den Staat gesagt oder geplant wird, dann ist das in Ordnung. Man darf sowas doch nicht tun, das machen Sie doch auch nicht, oder?“ Erneut setzt Beate zum Widerspruch an, doch Nina rutscht unruhig auf der Parkbank hin und her. „Hast du vergessen, daß wir Melonen mit nach Hause bringen sollen?“ mahnt die Plauerin zum Aufbruch und kneift die Lippen zusammen.

Mädchen wie Nina wird das Organ der FDJ, die 'Junge Welt‘, gemeint haben, als es am vergangenen Mittwoch über „Millionen Menschen“ schrieb, „die im Gegensatz zu Ausreißern gern in unserer Republik leben, und diese, ungestört von Egoisten und politischen Rowdys, immer attraktiver und freundlicher machen wollen“. Zwei Tage nach der Demonstration vor der Nikolai-Kirche sah das Blatt sich genötigt zu begründen, „warum die Junge Welt nicht berichtet“ hatte. „Weil diejenigen, die sich da zusammenrotteten, uns nicht informiert hatten, daß sie in Leipzig eine staatsfeindliche Aktion anzetteln wollen.“ Ungeniert lügt der Autor, er habe „von dieser Provokation aus dem BRD-Fernsehen erfahren“. Voll des Lobes für „unsere Genossen von der Volkspolizei und anderer Schutz- und Sicherheitsorgane“, könne die 'Junge Welt‘ über das Ereignis „nur so berichten: 'Danke Genossen, für Eure Wachsamkeit'“. Ob die angehende Pionierleiterin aus Plauen das ernst nehmen kann? Schweigend zieht Nina ihre Freundin in Richtung Warteschlange vor der „Vitamin-Bar“.

Zum vereinbarten Termin sitzen nicht drei, sondern vier Männer am Tisch. Der offenbar nur der West-Journalistin Unbekannte erzählt von seinem wenige Stunden zurückliegenden Behördenbesuch zwecks Ausreise, hat den „Kampf gegen Mühlen satt“, „Sehnsucht nach meiner Freundin“ und „weiß nicht, wie ich die Basisgruppen erreichen könnte“. Die anderen wollen bleiben. Nach einer Stunde fällt dem ganz in Schwarz gekleideten Kurzgeschorenen, der sich Mario nennt, plötzlich ein, daß er einkaufen muß. „Von dem geht seit zwei Jahren das Gerücht, daß er bei der Stasi ist“, sagt einer der Zurückgebliebenen. Sie sammeln Anhaltspunkte, zum Beispiel daß Mario angab, er sei 26 Jahre und 1980 aus der Partei geflogen. Da war er 17, ab 18 darf man erst eintreten. Horst wertet das als „akuten Mangel an qualifiziertem Personal bei der Stasi“ und fügt naserümpfend hinzu: „Aber die anderen Sachsen sind auch nicht besser, noch nicht mal in der Lage, so 'nem Typ zu sagen, daß er sich an einen anderen Tisch setzen soll.“

„Wer verläßt schon die Heimat

Der Auseinandersetzung um die Zukunft ihres Landes völlig entzogen haben sich Intellektuelle, die zwar vom Vortrag des Reformers aus der Lutherstadt wissen, Demonstrationen betrachten, aber lieber ein dtv-Buch lesen und im kleinen Freundeskreis ihren Zynismus mit Rotwein begießen. „Sonst müßte ich Politiker werden, und das hab ich nicht vorgehabt“, sagt der Jung-Mediziner Detlev (23). Als Sänger des Leipziger Thomaner-Chores hat er „früher öfter über den Zaun geguckt. Von hier ist es beinah schöner, den Verfall des Ostblocks zu beobachten. Das Gegenteil war ja geplant.“ Im übrigen: „Wer verläßt schon die Heimat?“

Sein Freund Thomas (22), der Theologie studiert, „weil du da so ein schönes Lotterleben führen kannst und gleichzeitig ein wenig Bildung erfährst“, hatte die Flucht geplant, kopierte Papiere schon nach München geschickt. Als er dann in Ungarn auf dem Wachtturm stand - „da wird nicht mehr gewacht, sondern wie vom Aussichtsturm geguckt“ -, schüttelten ihn plötzlich Magenkrämpfe. Er fuhr zurück nach Dresden. „Als ich auf dem Bahnhof durch Taubenscheiße watete, erkannte ich die DDR wieder, wußte daß ich einen Riesenfehler gemacht habe.“ Während die Freunde ihn in Leipzig aufpäppelten, erinnerte sich Thomas daran, daß seine Eltern am gleichen Datum, nur 28 Jahre früher und einen Tag vorm Mauerbau, „den gleichen Fehler wie ich in Ungarn gemacht haben“. Er hält sich für einen Feigling.

Aus dem ernsten Stimmungstief zieht Detlev die fünfköpfige Clique mit wenigen Worten zur „Verweilproblematik“ wieder hoch: „Drüben mußt du loswurzeln, hier kannst du es dir in einer Nische bequem machen. Mit dem Moped haben wir angefangen. Jetzt fahren wir schon per Auto in Urlaub. Hier sind wir noch lange nicht am Ende unserer Möglichkeiten“ wenn auch der Verfall der Stadt, die Verrohung der Gesellschaft, der tägliche offenkundige Beschiß und die proletische Kultur schmerzen, „sobald du aus der Haustür trittst“. Vielleicht deshalb wird Thomas doch demnächst auf das „Angebot aus Westdeutschland, geheiratet zu werden“, eingehen. Das ist legal, und er kann Freunde und Eltern besuchen.

Nach diesem Gespräch trinkt Horst eine halbe Flasche „Burgos“ aus dem „Delikat„-Laden. Die Welt der „DDR-Yuppies, vom Polo-Shirt bis zur Unterhose in West-Klamotten eingekleidet, mit 18 Fahrerlaubnis, mit 20 einen Trabant von Papi, VEB mit 'Vaters ehemaliger Betrieb‘ übersetzen“, ist nicht Horsts Welt. Regelrecht fertig macht ihn, daß sie „nicht in der Lage sind, auf eigenen Füßen zu stehen. So etwas lernst du hier nicht, und deshalb ist es so hoffnungslos.“

Pfarrer Friedrich Schorlemmer und mit ihm viele Gleichgesinnte, die „es mit diesem Land und seinen Menschen weiter versuchen wollen“, hoffen darauf, daß die Zeit für den großen gesellschaftlichen Dialog noch nicht verspielt ist. Daher verdrießt Schorlemmer die beißende Reaktion der SED-Bezirksleitung Halle auf die Veröffentlichung der 20 Thesen nicht allzu heftig. Hüben wie drüben setzen SED -KritikerInnen auf den „Differenzierungsprozeß innerhalb des Apparates“. Die „große Einsatzbereitschaft“ und das „Arbeitspotential in der Partei“ werden nach Meinung Schorlemmers „in der Öffentlichkeit durch kleingeistige Bürokraten“ verdeckt.

Haarrisse in der SED-Festung

Jeder Haarriß in der SED-Festung wird aufmerksam registriert und hinter vorgehaltener Hand weitererzählt. So ist von „offiziellen Gesprächen über Umweltpolitik“ zwischen Partei und Umweltgruppen zu hören. Eine Menschenrechtsgruppe berichtet von „internen Kontakten in SED-Kreise hinein“. Im verborgenen bleibt, wie sich das Pflänzchen Dialog entwickelt, geschweige denn welche praktischen Ergebnisse es zeitigt in einer Stadt, der in den ersten vier Monaten des Jahres angeblich 5.000 Einwohner den Rücken kehrten.

Daß die Partei weder die Lage noch ihren eigenen Laden im Griff hat, davon sind Ortsansässige überzeugt. Als Indizien dafür führen sie an, im ersten Halbjahr seien 1.000 Mitglieder ausgetreten, 700 seien aus der Bezirksgruppe rausgeschmissen worden (eine Bestätigung oder ein Dementi des Genossen Kassierer steht aus). Nach außen versuchte die SED redlich, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dabei scheute sie weder Personal noch Kosten: Bereits im Juni soll die Leipziger Bereitschaftspolizei das Spritkontingent bis November verfahren haben. Trotzdem waren die höheren Kader unzufrieden. Wegen schlechter politischer Arbeit und Nichteinhaltung von Ruhe und Ordnung soll das Politbüro der Bezirksleitung eine Rüge erteilt haben. Besonders sauer stieß es der Hierarchie auf, daß beim verbotenen Straßenmusikfest schätzungsweise 2.000 Menschen zuhörten, beim organisierten FDJ-Rockabend sich indes nur hundert Jugendliche einfanden. Parteiintern soll es gekracht haben, als Mitarbeiter von Stadtbezirksleitungen gegen das SED-Lob für das chinesische Massaker aufmuckten. Offiziell drang nichts nach außen.

Wie hatte ein Weißhaariger das Ergebnis der Debatte in der Kirche der Reformierten Gemeinde zusammengefaßt: „Viel war's noch nicht, aber wir sind ja immer alle guter Hoffnung.“ Ein Prediger war das nicht.

Langeweile unterstellt Horst den Polizisten, die auf der Strecke zwischen Leipzig und Berlin dreimal die Papiere kontrollieren. Im heimischen Hinterhof, fünfter Stock, liegt ein Brief. Darin steht, daß „die materiell-technischen Voraussetzungen für die von Ihnen beantragte Fernsprecheinrichtung fehlen“. Seit vier Jahren immer die gleiche Antwort. Müde wirft Horst sich in den Korbsessel. „Es gibt Tage, da denkst du nur drei Worte, in dieser Reihenfolge: Mauer, Westen, rüber.“