Wunderbar saubere Form der Erotik

Was treibt Menschen zu Extremen? / Ein Buch über die Psychologie des Bergsteigens  ■  Von Harry Nutt

„Aus Südtirol stammen die großen Gefühle,“ heißt es in dem Roman Spielplatz der Helden des Österreichers Michael Köhlmeier. Es ist der Roman einer authentischen Grönlandexpedition dreier Südtiroler, zugleich aber auch lesenswerte Erkundungsfahrt in die Niederungen der Seele, die solche Taten zur Ausführung bringt. Aus Südtirol stammen nicht nur die großen Gefühle, sondern auch die großen Bergsteiger. Allen voran Reinhold Messner, der es freilich stets brillant verstanden hat, seine Bergneurose weniger als Stigma denn als Stimulanz beim Erklimmen der Höhen des Ruhms zu verkaufen.

Zur Psychologie des Bergsteigens heißt nun ein Buch des Psychologen Ulrich Aufmuth, das tiefe Einblicke in die Bergsteigerseele gibt; der Band knüpft an seinen Titel „Die Lust am Aufstieg“ an. Wahnsinn, Lebensmüdigkeit und Geltungssucht sind die häufig genannten Attribute, die verständnislose Flachländer für die riskanten Überlebenskämpfe am Berg parat hat. Solch einseitiger Verbannung in die Bereiche der Verrücktheit versucht der Autor entgegenzutreten.

Was in die Berge lockt, hat unten in der Lebenswelt seinen Grund. Unsere Lebensumstände sind es, die sich dramatisch verändert haben, woraus die Bergleidenschaft als Massenphänomen entstanden ist, behauptet Aufmuth. In fast allen Lebensbereichen begegnen uns Defizite des Selbsterlebens. „Wir nehmen im Alltagsleben die meiste Zeit über gar nicht bewußt Notiz davon, daß wir einen Körper haben. Der Leib ist für die Bewältigung unseres Daseins ziemlich unwichtig geworden.“ Eine ähnliche Diagnose, so darf man vermuten, trifft auf den Umstand zu, daß immer mehr Menschen zum lustvollen Körpererleben in die Maschinenhallen der Fitneß-Center getrieben werden.

Aufmuth ist vor allem darum bemüht, die Bergsteigerei aus einer pathologischen Betrachtungsweise herauszunehmen. Gerade ein naturnaher Sport wie das Bergsteigen verhilft dem Körper in der Tat auf vielfältige Weise zu einem verkümmerten Recht des Selbsterlebens und der Eigenleistung. Aufmuth begeht dabei nie den Fehler, in die ausgetretenen Pfade verklärender Bergsteigerromantik zu tappen, wenngleich seine Argumentationstour mitunter einen gefährlichen Grat zwischen Ideologie und Kitsch einschlagen muß.

Die Absicht dieser wagemutigen Rhetorik ist klar. Es geht dem Autor darum, aus offener Begeisterung für die Bergsteigerei heraus in die kritische Distanz zu ihr zu treten. Dies gelingt vor allem dem Psychologen Aufmuth, der mit seinem Handwerkszeug behutsam umzugehen versteht.

Gerade die Extremkletterer lassen in ihren Äußerungen über ihre Leidenschaft etwas von einem starken psychischen Druck erkennen, der auf ihnen lastet, wenn der Berg ruft. Der vorherrschende emotionale Grundton bei den „Extremen“ ist einer des Leidens. So sind denn auch viele Erlebnisse von Bergextremisten überlagert von schmerzvollen Qualen in Todesnähe, was sie trotzdem nicht davon abhält, schon nach kurzer Zeit wieder die Schuhe zu schnüren. Aufmuth spricht hier von bei Bergsteigern häufig auftretenden Gefühlslücken oder Gefühlsverschattungen, die sie durch Überstimulierung der intakt gebliebenen Gefühlsbereiche zu kompensieren suchten.

„Hauptsache ist, die Seele tönt und schwingt. Vor dem Hintergrund einer ganz tiefen Gefühlsbedürftigkeit sind große Lust und große Qual weitgehend gleichwertig, sind doch beide absolut eindeutige Seinsbestätigungen.“ Sexualität und Bergsteigen gehen, sagt Aufmuth, eine kaum zu leugnende Verbindung ein. „Das eigentlich Besondere dabei ist, daß das sexuelle Element gleichzeitig hervorragend kaschiert ist. Überspitzt kann man sagen: Bergsteigen ist eine wunderbar saubere Form der Erotik.“

Eine immer wieder auftretende Grunderfahrung des Extrembergsteigers ist das Empfinden einer Selbstfremdheit, Zerstückelung und Disharmonie, die durch die Selbstbezwingungskämpfe am Berg in ein Gefühl der Ganzheit und der Harmonie umschlagen kann. Auch hier unterlaufen Aufmuth keine Verharmlosungen seines Gegenstands. Schonungslos, und deshalb spannend zu lesen, sind auch seine Analysen des echten Wahnsinns, das Auftreten psychotischer Erlebnisse am Berg, die nicht selten die Todesgefahr überhaupt erst ausmachen. Eine Psychologie des Bergsteigens ist nicht nur für Freunde und Gegner des Drangs nach dem Höheren von Belang. In seiner Diagnostik gelingt es Ulrich Aufmuth auch, die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen wie individuellen Ursachen zu lenken, die Menschen immer stärker zu Extremen im Umgang mit sich selbst zwingen. Das zu erkennen ist vielleicht der beste Weg dahin, in aller Ruhe auch einmal wieder einen Waldspaziergang machen zu können.

Ulrich Aufmuth, Zur Psychologie des Bergsteigens, Fischer TB, Frankfurt 1988, 232 Seiten für 16,80 Mark