: „Papa, wo bist du?“
Brief eines Betriebsleiters der DDR an einen Flüchtling ■ D O K U M E N T A T I O N
Die Zeitung des offiziellen Jugendverbandes FDJ der DDR, die 'Junge Welt‘, hat am Samstag den Brief eines Betriebsleiters an seinen ehemaligen Mitarbeiter veröffentlicht:
Hallo, Maik!
Du hast nicht nur Dir, sondern uns allen zu Deinem 27. Geburtstag eine Überraschung bereitet, mit der keiner gerechnet hat. Am wenigsten wohl Deine Familie und Deine näheren Verwandten. War das wirklich Dein Ziel? Deine Frau, Dein Kind, Deine Kollegen, Deinen Betrieb, Deinen Staat zu verlassen? Ich will nicht aufzählen, was Du hier alles zurückgelassen hast, um in eine Zukunft zu gehen, die mehr als fragwürdig ist. Wie ist Dir zumute, wenn Dein Kind Dich am Telefon fragt: „Papa, wo bist du?“?
Du warst einige Tage lang bei uns im Betrieb Gesprächsstoff Nummer eins. Nicht einer hat dabei für Deine Handlung Verständnis aufgebracht - trotzdem Dich alle gut leiden mochten. Du warst ein guter und hilfsbereiter Kollege: Aber diesen Schritt versteht niemand. Sind denn schnelle Autos und Reisemöglichkeiten für Dich alles im Leben? Zählen Familie, Liebe, Feundschaft, Sicherheit, Harmonie überhaupt nicht für Dich?
Ich habe Dich immer für einen klugen Burschen gehalten, und jetzt hast Du Dich in die Reihe der Hirnlosen und Verirrten eingereiht, um denen aus der Hand zu fressen. Du wirst sicherlich bald wieder ein großes Auto fahren, sicher auch weniger Reparaturen und weniger Ärger mit Deinem Fahrzeug haben. Aber sicher ist auch, daß Du Atmosphäre und Kollegialität unseres Betriebes nicht wiederhaben wirst. Als fehlende Arbeitskraft bist Du ein Verlust für uns. Aber der Verlust ist auszugleichen - Ingo hat Deinen Kühlzug übernommen. Als Mensch, als Kollege bist Du eine Enttäuschung, von der sich viele von uns, und besonders ich, sobald nicht wieder frei machen können.
Es ist üblich, daß man zum Geburtstag alles Gute wünscht. Alles Gute für Dich wäre, wieder zur Vernunft zu kommen. Das wünscht Dir Dein ehemaliger Betriebsteilleiter.
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