: Bayern sächselt - DDR kocht
■ 1.400 DDR-Flüchtlinge kamen am Wochenende über Ungarn nach Bayern / DDR entzieht Fluchtwilligen Papiere / Ungarns Westgrenze bleibt offen / 'Prawda'-Kritik an der BRD / DDR-Medien zetern gegen Bonn
Hamburg (dpa/ap) - Der Strom von DDR-Flüchtlingen aus Ungarn hielt auch am Wochenende unvermindert an. Am Samstag und Sonntag reisten rund 1.400 DDR-Übersiedler nach Bayern ein. Für die Nacht zum Montag wurden neue Bustransporte erwartet. Seit Öffnung der ungarischen Grenzen vor einer Woche flüchteten nach offiziellen Angaben knapp 16.000 DDR-Bürger über Österreich in die Bundesrepublik.
Die DDR versucht nach Angaben von Flüchtlingen in Budapest offenbar, die Massenflucht zu stoppen, indem sie immer mehr DDR-Bürgern Ausweis- und Reisepapiere entzieht. Der Leiter des Lagers des Malteser-Hilfsdienstes in Budapest, Wolfgang Wagner, sagte gestern, es meldeten sich zahlreiche Menschen, die erklärten, sie hätten durch die Donau schwimmen oder illegal über die „grüne Grenze“ nach Ungarn kommen müssen. Behörden der CSSR und der DDR, so berichteten die Flüchtlinge Wagner zufolge, würden immer öfter Reisepapiere von Leuten beschlagnahmen, die ihrer Meinung nach die Flucht in den Westen planten. Einige Flüchtlinge hätten erzählt, daß Sicherheitsbeamte in ihre Wohnung gekommen seien, um die Papiere zu holen. Andere DDR-Bürger, die auf dem Weg nach Ungarn waren, seien aus Zügen geholt und nach Hause zurückgeschickt worden.
Trotz der scharfen Kritik Ost-Berlins an der Budapester Haltung will Ungarn offenbar seine Grenzen offen halten. Ungarn habe „im Namen der Menschlichkeit“ den Staatsbürgern der DDR den Grenzübertritt gestattet und könne jetzt im Geiste des KSZE-Abkommens von Helsinki seine Grenzen nicht wieder schließen, unterstrich Ministerpräsident Miklos Nemeth in einem Beitrag für 'Bild am Sonntag‘.
Die ungarische Regierung hat nach einem Bericht der 'Washington Post‘ mit der Sowjetunion beraten, bevor sie die Genehmigung zur Ausreise der DDR-Bürger gab. Im Kreml habe es keinen Widerspruch gegeben, berichtete das Blatt am Sonntag aus Oslo unter Berufung auf nicht näher genannte westliche Offizielle.
Nemeth verteidigte die „souveräne Entscheidung“ Budapests gegen die DDR-Vorwürfe der Vertrags- und Völkerrechtsverletzung mit dem Hinweis auf den vom sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow angestrebten Bau eines „europäischen Hauses“. Er betonte, „wenn man das europäische Haus ... wirklich bauen will, kann man die Grenzen nicht wieder schließen. In einem solchen Haus darf es keine Zimmer geben, die mit Stacheldraht voneinander getrennt sind.“
Das sowjetische Parteiorgan 'Prawda‘ sprach am Samstag dagegen von „illegalen Grenzübertritten“ und warf der Bundesrepublik Völkerrechtsverletzung vor. „Die großangelegte Provokation im Namen der Flüchtlinge ist ein Angriff auf die Stabilität zwischen beiden deutschen Staaten und allen Ländern des Kontinents.“ Die 'Prawda‘ wertete die „große provokatorische Aktion gegen die DDR“ als eine „unverhohlene Verletzung des Völkerrechts“.
Die DDR-Medien setzten am Wochenende ihre Kritik am Verhalten Bonns zu dem Flüchtlingsstrom fort. „Wir erleben gegenwärtig einen erbarmungslosen psychologischen Krieg gegen den Sozialismus“, schrieb der Kommentator der Ost -'Berliner Zeitung‘ am Samstag. In der Jugendzeitung 'Junge Welt‘ hielt ein Betriebsleiter einem Geflüchteten vor, er habe sich „in die Reihe der Hirnlosen und Verirrten eingereiht, um denen aus der Hand zu fressen“. Er wünsche ihm, wieder zur Vernunft zu kommen. (Siehe dazu auch die Dokumentation auf Seite 8.)
Alle Zeitungen enthielten am Samstag einen Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur 'adn‘ mit der Schlagzeile „Anwerbung von DDR-Bürgern ist 'Sklavenhandel'“, der sich mit den Verhältnissen vor den Flüchtlingslagern in Bayern befaßt.
Der SPD-Vorsitzende Vogel hat nach eigenen Angaben Hinweise auf einen Machtkampf in der DDR-Führung. Vogel sagte in einem Interview, es gebe Anzeichen dafür, daß innerhalb der SED-Spitze ein Flügelstreit über den künftigen politischen Kurs ausgebrochen sei. Er wolle aber keine Namen nennen, „weil das in der gegenwärtigen Phase nicht förderlich, sondern kontraproduktiv wäre“.
Der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt hat sich am Samstag auf dem Landesparteitag der niedersächsischen SPD in Hannover gegen eine Überbewertung der Absage der DDR an eine SPD-Parlamentariergruppe ausgesprochen. Auf Rückschläge müsse man gefaßt sein, und die DDR werde sich dem weitreichenden Wandel, der im Osten im Gang sei, auf die Dauer nicht entziehen können. Es handele sich bei diesem Wandel im Ostblock nicht etwa um ein Ende des Sozialismus, sondern um ein Ende des autoritären Kollektivismus.
Auch nach der Absage der Reise von SPD -Bundestagsabgeordneten zur Ostberliner Volkskammer halten die Außen- und Deutschlandpolitiker der FDP-Fraktion an ihrer Absicht fest, am 21. und 22. Oktober in Dresden Gespräche mit Politikern und Kirchenvertretern zu führen. Wie es am Samstag hieß, hat die DDR dafür aber noch keine Gesprächspartner benannt. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel wertete unterdessen die kurzfristige Ausladung der Sozialdemokraten als Ausdruck für einen Flügelkampf in der DDR-Führung.
Für die 250 und rund 60 DDR-Flüchtlinge in den Bonner Botschaften in Prag und Warschau ist nach wie vor keine Lösung in Sicht.
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