Die Anderen: Gazeta Wyborcza/Tages-Anzeiger/Financial Times/Liberation

Gazeta Wyborcza

Die Deutschen haben nach den Worten des Chefredakteurs der Solidarität-Zeitung „Gazeta Wyborcza“, Adam Michnik, ein Recht auf Vereinigung. Die Form eines deutschen Staates hänge jedoch von den Deutschen selbst und von der Situation in Europa ab, schrieb Michnik in einer Reaktion auf Kritik aus den Reihen der kommunistischen Partei an entsprechenden Äußerungen von Solidarität-Fraktionsführer Bronislaw Geremek.

Es ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch eine Verpflichtung der polnischen Staatsräson, den Deutschen das Recht darauf zu geben, was wir selbst haben wollen - auf einen Staat. Die unnormale Lage der deutschen Nation legt sich als Schatten auf die Gesamtheit der polnisch-deutschen Beziehungen. Wenn wir einen Durchbruch in diesen Beziehungen erzielen wollen, müssen die Deutschen wissen, daß die Polen nicht an dem Bestand einer stalinistischen Ordnung in der DDR interessiert sind. Mehr noch, daß die Entstalinisierung der DDR im nationalen polnischen Interesse liegt.

Tages-Anzeiger

Unter dem Titel „Es kracht auf allen Etagen“ befaßt sich der Züricher „Tages-Anzeiger“ mit dem Nationalitätenproblem in der UdSSR:

Selbst wenn Aufwertung und Verselbständigung der Republiken vollzogen sind, heißt das noch lange nicht, daß das Zusammenleben harmonischer wird. Denn je selbständiger die Teilstaaten sind, desto mehr hängen die kleinen Volksgruppen ohne territoriale Autonomie von den Hauptnationalitäten ab.

Experten weisen gerade auf die schwierige Situation in dieser „dritten Etage“ hin - auf die Gefahr, daß die Hauptnationalitäten die Selbstbestimmung, die sie selbst von Moskau beanspruchen, ihren Minderheiten nicht garantieren könnten. Nicht umsonst hat Gorbatschow derart eindringlich betont, für jeden Bürger müsse die Ausübung der verfassungsmäßigen Rechte, welcher Volksgruppe er auch angehöre, garantiert sein.

Financial Times

Das Wirtschaftsblatt „Financial Times“ befaßte sich mit den immer lauter werdenden Autonomieforderungen ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion:

Wenn auch Michail Gorbatschows anderes Hauptproblem - die Wirtschaft - am ehesten eine Schockbehandlung braucht, der Nationalitätenfrage ist damit sicherlich nicht gedient. Dieser Tiger muß langsam gezähmt werden. Es ist von zentraler Bedeutung für die Sowjetunion, Osteuropa und den Rest der Welt, daß das Zentralkomitee in Moskau morgen eine Entschließung verabschiedet, die allgemein genug ist, um das lange unterdrückte Bedürfnis nach größerer Autonomie zu befriedigen und die trotzdem keine Lunte an die Mauern des Kremls legt.

Sie muß Abwechselung und Ketzerei tolerieren, oder die wunderbare Öffnung in der Welt, die Gorbatschow vieles zu verdanken hat, verengt sich wieder oder schließt sich ganz, und dann werden wir alle verlieren.

Liberation

Zum gleichen Thema kommentiert die linke Pariser Tageszeitung:

Es ist verständlich, daß Gorbatschow in diesem Herbst vor allem bemüht ist, die indirekt durch seine Glasnost-Politik ausgelösten Kräfte zu kanalisieren. Mit dem ZK-Plenum könnte sich jedoch der Eindruck verstärken, daß die Moskauer Führung zum Nationalitätenproblem nur einen konservativen Diskurs zu bieten hat, da die Ereignisse vor Ort die sich langsamer entwickelnde allgemeine Perestroika schon überholt haben. Zum erstenmal seit langem hat man den Eindruck, daß Gorbatschow die politischen Ereignisse in seinem Land nicht mehr im Griff hat. Das Nationalitätenplenum läuft schon im vorhinein größte Gefahr, von den Hauptbetroffenen vom Kaukasus über die Ukraine und Moldawien bis zum Baltikum als gescheitert angesehen zu werden. Eine radikale Erneuerung der sowjetischen „Union“ ist mit Abstand die unwahrscheinlichste Hypothese von allen.