: UdSSR: Nationalisten im Aufwind
■ Heute beginnt das Plenum des ZK mit der Debatte über die Nationalitätenfrage / Großdemonstration in der Ukraine / Anschlag auf Bus nach Baku / Oppositionelle Organisationen gründen Dachverband in Leningrad
Moskau (afp) - Im Vorfeld des heute beginnenden Plenums des Zentralkomitees der KPdSU machten am Wochende fast überall in der UdSSR Reformkräfte, Nationalisten und religiöse Gruppen mobil. Während in der Westukraine Zehntausende demonstrierten, trafen sich in Leningrad erstmals rund hundert oppositionelle Bewegungen und gründeten eine Dachorganisation. Am Sonntag kamen bei der Explosion einer Bombe in einem Bus, der auf dem Weg von der georgischen Hauptstadt Tiflis nach Baku in Aserbaidschan war, fünf Menschen ums Leben. Zum ersten Mal demonstrierten über 100.000 Menschen in Lwow in der Westukraine ungehindert für die Anerkennung und Legalisierung der seit 1946 verbotenen Unierten Kirchen (katholische Kirche der Ukraine). Während das sowjetische Fernsehen Bilder der Kundgebung zeigte, schwieg die 'Prawda‘ am Montag dazu. Rufe von „Volia, Volia“ (Freiheit) ertönten am Sonntag abend bei einer Menschenkette auf dem Lenin-Platz von Lwow, „Bolschewismus Faschismus“ war auf Schildern zu lesen, die Teilnehmer der Demonstration am 50. Jahrestag des Einmarsches der Roten Armee in die Westukraine trugen.
Schon im Februar hatte Gorbatschow bei einer Reise in die Ukraine auf die Gefahr einer von nationalistischer Agitation erfaßten Ukraine für die Union hingewiesen. „Gesetzt den Fall, es gäbe Entwicklungsprobleme in der Ukraine, wo 51 Millionen Einwohner leben - das ganze Land und die Perestroika würden aufgelöst“, warnte er damals. Während die Ukrainer demonstrierten, trafen sich rund hundert oppositionelle Organisationen aus der ganzen Sowjetunion darunter auch ein Dutzend Volksfronten - zu ihrer ersten Konferenz dieser Größenordnung in Leningrad. Gestern gaben sie die Gründung der Interregionalen Vereinigung der Demokratischen Bewegungen (MADO) bekannt - die erste Dachorganisation von der KPdSU unabhängiger Bewegungen in der Sowjetunion. Der Versuch der Vereinheitlichung der verschiedenen Strömungen ging nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten. So konnten sich die Teilnehmer nicht auf einen Sitz für das „Informationszentrum“ einigen, das sie zuvor gegründet hatten. Schließlich wurde ein Kompromiß gefunden, wonach sich das Zentrum alle drei Monate in einer anderen Stadt trifft.
Die Uneinigkeit über die Nationalitätenfrage auch zwischen den demokratischen Bewegungen macht das Ausmaß der Probleme deutlich, die Michail Gorbatschow am Dienstag im Plenum des Zentralkomitees angreifen wird. Die Sitzung ist einberufen, um auf diesem Gebiet eine neue Politik zu definieren. Die Reformgegner fordern, daß Moskau mit fester Hand die Situation unter Kontrolle bekommt. Der Führung der Kommunistischen Partei ist sich dagegen der Notwendigkeit bewußt, den Republiken, aber auch den einzelnen kommunistischen Parteien, mehr Autonomie zuzugestehen. „Es gibt die berechtigte Sorge, daß die Parteiorganisationen bei den derzeitigen Strukturen nicht in der Lage sind, die nationalen Interessen ihrer Republiken zu vertreten, und daß deswegen die Zentralkomitees dieser Parteien beschuldigt werden, wie Agenten der kolonialen Politik Moskaus zu handeln“, zitierte Radio Moskau den Leiter der Abteilung für Ideologie im Zentralkomitee der KPdSU, Kapto.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen