„SEX, LUST & VIOLENCE“

■ Das nahende Weltende im Konzertsaal der HdK

„Sex, Lust & Unzucht“ (Crosboll)

(Was mag sich die Übersetzerin gedacht haben?

Ich bin ein großer Fan jener obskuren religiösen Splittergruppen, die sich recht aktiv um die Rettung meiner Seele bemühen; die Welt würde sich mir trüber darstellen, müßte ich eines Tages jene ewiggleichen älteren Frauen vermissen, die einem stummen Mahnmal (Woolworth-Design) gleich an den Ecken der Kaufhäuser stehen und einem den plastikfoliengeschützten 'Wachturm‘ entgegenhalten (hat schon mal irgendjemand beobachtet, daß sich wer mit ihnen unterhält?). Ich horte und stapele alle diese dünnen Pamphlete mit den gruseligen Zeichnungen und den beeindruckenden Prophezeiungen. „The world may end tomorrow and you will die!“ Herrlich!

und jetzt findet also in Berlin vom 19.9. bis 28.9. gleich eine Marathonvortragsreihe statt. Marshall Crosboll, Vorhut einer adventistischen Missionsgesellschaft aus den USA, verkündet „die wichtigste Botschaft für Ihr Leben, wie sie nur selten zu hören ist“. Natürlich mußte ich da hin - und ich wurde nicht enttäuscht! Gleich am Eingang zum Konzertsaal der HdK große Stelltafeln, die mich tief erschüttern: Der Antichrist hat die zehn Gebote verfälscht! Kaum jemand weiß davon! und natürlich auch wieder jener Mann auf Papier, den sie mir noch alle andrehen wollten: das symbolische Geschichtsbild nach einer Prophezeiung von Daniel. Dazu später mehr.

Innen drin geleiten einen dann adrett gekleidete junge Burschen zum Fahrstuhl, jedermann ist freundlich, man drückt dir ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber in die Hand, „für Notizen“. (Nur ein Blatt? Das reichte nicht!) Eigentlich sollte im Foyer auch der übliche Büchertisch nicht fehlen - nur zu empfehlen, diese Schinken, die letzten wirklich surrealistischen Texte! - doch ist der Lkw des Verlages irgendwo auf der Strecke West Deutschland/Berlin verlustig gegangen; und man hofft, „daß es nichts Schlimmes sei“. und der üble Widersacher scheint noch einen Trumpf zu haben; Hauptprediger Ron Spear (warum sehen diese Leute auf Fotos immer so aus, als wären sie die Chefs einer gut besuchten Leichenhalle?) mußte aus persönlichen Gründen absagen.

Sei's drum. An die 80 Recken, bereit, das Banner Christi durch den morastigen Sündenpfuhl der Postmoderne zu tragen, haben sich in der nett angerichteten Halle eingefunden. Es sind dies vor allem Ältere und Frauen; die wenigen Jüngeren, die dazwischen hocken, entpuppen sich später als Gemeindemitglieder - manche machen den Eindruck von schlagkräftigen Karstadt-Hausdetektiven. Andere verlassen bereits nach wenigen Minuten den Saal - keinen Sinn mehr für Kunst, die Leute, für ernsthafte Anstrengungen.

Der Chor macht sich die Bühne hoch, ein Mädchen mit schrecklich anzusehenden Beinen beginnt den Takt zu wedeln, ich seh‘ die ganze Gruppe schon in Zungen sprechen und ekstatisch auf der Bühne rumrobben, aber nein, helle, klare Stimmen preisen den Herren. Angenehme Melodieführung, manchmal clevere Rhythmik - ich ertappe mich dabei, wie ich mit dem Fuß wippe - und natürlich unübertroffene Lyrics; kann man die ganzen „black metal clowns“ vergessen: „Das Weltende naht! Halleluja!“

Endlich betritt Marshal Crosboll die Bühne. Auch er trägt diesen öden dunkelblauen Anzug, dieses Genre-Kostüm. Sonst sieht er aus wie ein CIA-Agent aus einem drittklassigen Agentenfilm, in dem er zur Tarnung einen fiesen Gebrauchtwagenhändler markiert. Seine Stimme klingt wie dein männlicher Telefonsexpartner oder wie die eines abgebrühten Zweite-Hand-Organhändlers.

Jeder Satz von ihm wird ins Deutsche übersetzt. Dabei entstehen dann gelegentlich eigentümliche Verfremdungen (s.o.) „Tonight the world is in trouble!“ - „Pardon?“ Das ist der Stoff, den ich brauche: overpopulation, nuclear waste, immorality has taken over most societies, economics are fragile, drugs are used by young people, families are in danger... Was birgt da die Zukunft? Die Leute gehen zu Astrologen, zu Okkultisten, zu Hellsehern - schrecklich, mehr als 80.000.000 lesen heute ihr Horoskop (in den USA), an den Unis gibt es Kurse über Hexerei und Telepathie. Ist die Welt noch zu retten? GIBT ES HILFE? Einem kleinen Häufchen Elend gleich, klumpe ich im Sitz, als ich - man meint, Fanfaren zu hören - die frohe Botschaft vernehme: Die Bibel kann uns die Zukunft sagen! „Neigt das Haupt zum Gebet!“

Der heutige Einführungsabend legt das Grundgerüst für die kommenden Tage. Es geht um die Prophezeiung von Daniel, die viele dieser Gruppen benutzen. Um es kurz zu machen, geht es dabei um folgendes: Daniel, der Prophet, interpretiert dem babylonischen König Nebukadnezar einen Traum. Dieser sieht eben jenen genannten schmucken Jüngling, Haupt aus Gold, Brust aus Silber, Bauch und Lenden aus Erz, Beine aus Eisen und die Füße aus einem Gemisch aus Eisen und Ton. Dann kommt ein Stein auf die Füße geflogen und der ganze Kerl bricht in Stücke. Was soll uns das sagen??

Die allgemeine Regel ist, daß hier die Degeneration der Weltreiche dargestellt ist. Interessant wird es dann bei den Zuordnungen, also welchem Körperteil welches Reich entspricht. Manche rechnen das sogar auf Jahre genau aus. Das ist zwar mutig, jedoch peinlich, wenn der Weltuntergang dann doch nicht stattfindet.

Prediger Crosboll ist geschickter. Die Reihenfolge sei Babylon, Persien, Griechenland, Rom - und das zersplitterte dann...: Europa zersplittert! „Haben Sie sich jemals gefragt, warum Europa über 1.000 Jahre lang nicht vereinigt werden konnte?“ Ehrlich gesagt: Nein. Weder die Versuche Karls des Großen, noch die Napoleons - „God Almighty had been to much for me!“ - noch die Hitlers (ja!) konnten die zersplitterten Nationen vereinen. Crosboll schiebt hier eine klasse kleine Geschichte ein: Die private Krankenschwester von Hitler hätte einmal seine Mutter getroffen (!) und dieser berichtet, sie, als treue Christin, hätte den „Führer“ mehrmals auf die Prophezeiungen hingewiesen, doch dieser wollte sich mit Gott messen. Na, da konnte es ja nicht klappen! (Wie überhaupt manchmal etwas befremdliche Töne angeschlagen werden, egal.)

So und Vorsicht vor dem europäischen Binnenmarkt! Denn sollten die zehn Reiche (das sind diese Füße des Kerls) entstehen, so ist Gottes Reich nahe. Er wird dann alle Staaten zerschlagen und sein Paradies errichten. und naturally - nur wer seinem Volk angehört, kann gerettet werden. RUMMMS!

In Amerika sind die Fundamentalisten untereinander uneins, wann und wie die Auferstehung der Toten sich vollziehen werde: Vor der großen Katastrophe (das sind die Schwächlinge), während des Weltuntergangs (das sind die, die sich in den üblen Zeiten und Zeichen eingerichtet haben) oder gar erst nach der Apokalpyse (das sind die, die meinen, alle müßten erstmal geprüft werden). Was Crosboll und Co. dazu zu sagen haben, wird sich in den nächsten Tagen klären: Auf dem Programm stehen noch so vielversprechende Themen wie „Die Auferstehung der Toten“ (wie, wann, wo und vor allem - warum?) am 20.9.; „Okkulte Explosion - ein Zeichen der letzten Zeit“ (Gibt es besseren Spaß, als zuzuhören, wie sich religiöse Fanatiker gegenseitig als Teufelsdiener beschimpfen?), am 21.9.; und, was für ein Zufall, am gleichen Tag schwafelt Tarot-Schreiberling Sergius Golowin über „Schamanen, Hexen, Perestroika (W-A -S??)“ bei der Konkurrenz vom Zeitlos-Zentrum. Nächste Woche gibt es dann die volle Dröhnung: am 27.9. „Das Malzeichen des Tieres und die Zahl seines Namens: 666“ sowie am 28.9. „Das göttliche Gericht“.

Das Herrliche an diesen Typen ist die Besessenheit von Fakten, das permanente Rekurrieren auf hirnrissige Statistiken, oder, in Anlehnung an eine bekannte deutsche Schokoladenmarke, gesagt: „Pragmatisch - Praktisch - GUT!“

R. Stoert

Bis 28.9., täglich jeweils 19 bis 20.30 Uhr im Konzertsaal der HdK, Bundesallee 1-12, 1-15.