Morbider Orkus der Städte

Jedes Kanalnetz leidet an seiner Aufgabe, Schmutzwasser abzuführen. Allein der anfallende Sand und Kies im Kanalbett wirkt wie Schmirgelpapier, zehrt unaufhörlich an der Substanz. Auch die Ignoranz, auf die es von oben stößt, macht ihm zu schaffen: Die städtischen Rohrverbindungen sind permanent den Vibrationen des Straßenverkehrs ausgesetzt. Bundesweit ist fast ein Fünftel aller Kanäle älter als 50 Jahre, sechs Prozent haben sogar die Detonationen beider Weltkriege abbekommen. Auf der Prioritätenliste der Kommunen allerdings rangierte die Sanierung des weithin leckgeschlagenen Abwassernetzes ganz unten: Denn mit Abwasser lassen sich keine Wahlen gewinnen.

In den morbiden Tunnelröhren unterhalb unserer Füße schwimmen womöglich bis zu 100.000 verschiedene Chemikalien, schätzt Bauingenieur Professor Dietrich Stein von der Ruhruniversität Bochum, darunter das gesamte Spektrum „gefährlicher Stoffe“, wie sie die jüngste Wasserhaushaltsgesetz-Novelle auflistet. Dieser „Mix“ macht Bestandteile, welche für sich genommen relativ harmlos sind, zu echten Killern. Beispiel: das im Urin enthaltene Ammonium. Es wandelt sich durch Sauerstoff und die in der Schattenwelt zuhauf vorhandenen Bakterienkulturen in Nitrat um, und dieses wiederum kann mit Eiweißverbindungen zu krebserregenden Nitrosaminen reagieren.

Etwa 100 Millionen Kubikmeter Abwässer versickern hierzulande jährlich durch die morschen Wandungen des unterirdischen Kanalnetzes. Derart erreichen sie das Grundwasser. Die schädlichen Organchlorverbindungen jedoch brauchen nicht einmal Löcher und Risse, um dorthin zu gelangen - sie diffundieren von allein durch feinste Poren intakten Betons.

Ralf Schäpe