: Scheiße im Kanalnetz - Thema ohne Ende
Rohrbrüche verursachen Rohrbrüche in maroden Abwasserkanälen / Schadstoffbrühe verunreinigt allein in Münster etliche Millionen Kubikmeter Trinkwasser Bundesweit müßte die doppelte Strecke bis zum Mond für Totalsanierung geprüft werden / Wer soll 50 bis 100 Milliarden Mark für Instandsetzung aufbringen? ■ Von Ralf Schäpe
Eines Tages konnte der Mensch sich nicht mehr riechen. Da erhob er sich von allen Vieren und lernte auf den Füßen zu gehen. Dies war sein erster fundamentaler Schritt auf dem Weg zur menschlichen Kultur. Er war jetzt mit der Nase weiter weg vom Dreck.Horst Vetten “...Über das Klo„
Dorthin, wo auch die hocherhobene Nase des Zweibeiners nicht über dem Geruch steht, gelangt man durch einen rohrförmigen Schacht. Der Kanal am Hansaring in Münster ist an die hundert Jahre alt, das erkennt man daran, daß er noch gemauert ist. „Wir haben jetzt nur ausprobiert“, erläutert Heinrich Schwippe, „ob wir das Wasser über den Tag durch Umpumpen halten können. Aber es lief noch über unsere Absperrung her. Über Tag geht das nicht. Wir müssen jetzt nachts ein Stück trockenlegen.“ Nachts wird nämlich weniger geschissen.
Für Routiniers gibt es viele Gründe, in den Hades der Städte zu steigen. Einer davon: Rohrbruch, hervorgerufen durch einen anderen Rohrbruch. Meister Schwippe platscht hier unten mit der gleichen Selbstverständlichkeit stromabwärts, mit der er auch am Wochenende sein Segelboot durch das Wasser platschen läßt. Eine Hand tastet sich an der Wand entlang, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, die andere hält eine Taschenlampe, mit der er den Gang vor sich ausleuchtet. „Das ist ein alter Kanal, der hat Höhen und Tiefen. Gemauertes Eiprofil. Hier, seh'n Se: ein richtiges Ei“, Schwippe malt den Querschnitt der Leitung in die Luft.
Mit gut zwei Metern Höhe gehört sie zu den größten in Münster. Andere haben einen Durchmesser von 1,20 Meter, darin kann man nur gebückt gehen und arbeiten. Wenn es noch viel kleiner wird, muß das „Auge“ ran: eine bewegliche Kamera, die durch das Labyrinth bugsiert wird. Hinterher läßt sich dann auf einem Videofilm jeder Meter Rohr ansehen: ob Wurzeln hineingewachsen sind, ob Risse oder Brüche Abwasser austreten lassen.
Etwa 40 Meter von der Einstiegsluke entfernt ist die schadhafte Stelle schließlich gefunden: Gleich zwei Löcher sind es, eines auf der linken, das andere auf der rechten Uferseite. Diese Stelle muß also trockengelegt werden, damit das Loch gestopft werden kann. Die Brühe, die normalerweise hier entlang fließt, muß dann vor dem Reparaturplatz aufwendig umgepumpt werden.
Wenn diese Sache beendet ist, ist sie aber noch lange nicht erledigt: In Münster ist man nämlich etwas weiter als anderswo. Zu den Routinearbeiten am Kanalnetz gesellen sich in naher Zukunft noch umfangreiche Sanierungsarbeiten. Zwischen zehn und 20 Prozent des gesamten Kanalnetzes in der Bundesrepublik sind dringend sanierungsbedürftig. Für Münster heißt das: Bis zu 240 von 1.200 Kilometern Kanal müssen aufwendig repariert werden.
Für die Bundesrepublik kann dies bedeuten, daß 50 bis 100 Milliarden Mark aufzubringen sind, um den Schäden von 285.000 Kilometer öffentlicher und 600.000 Kilometer Grundstücksentwässerungsleitungen beizukommen. Angesichts solcher Summen zeigt sich die Bauindustrie natürlich von ihrer umweltfreundlichsten Seite und argumentiert in Allianz mit den Umweltschutzverbänden für die dringend notwendige Instandsetzung. Aus alten, defekten Rohrleitungen fließt ungeklärtes Abwasser in den Boden und irgendwann auch ins Grundwasser. Fließgeschwindigkeit: „Null Komma nichts“, meint Nicolaus Geiler vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Null Komma nichts jedenfalls, wenn der Grundwasserspiegel unter dem Niveau der Kanalleitungen liegt. Liegt er über den leckenden Rohren, dann mischt sich Grundwasser ins Abwasser, wird mit verunreinigt und fällt als Fremdwasser in der Kläranlage an.
Von 18 Millionen Kubikmetern, welche die Stadt Münster ins Frischwassernetz einspeist, kommen bei trockenem Wetter 27 Millionen Kubikmeter als Abwasser an - mithin sind neun Millionen Kubikmeter woanders hergekommen: aus Drainagen, die verbotenerweise an das Netz angeschlossen sind, oder eben über undichte Rohrleitungen aus dem Grundwasser.
Grundwasser verdreckt
In der Westfalenmetropole haben die Behörden das Problem als solches erkannt und sich auch gleich an eine umfangreiche Schadenserfassung gemacht. Andere Städte - und die sind in der Mehrzahl - reagieren da langsamer. Dr. Georg Meiners, Sprecher des Arbeitskreises Wasser beim BUND, zitiert das Beispiel der Stadt Ludwigshafen: Dort habe man - Augen zu und durch - das Problem solange ignoriert, bis es nicht mehr ging. Das Grundwasser der oberen Schichten war durch Abwasser so verdreckt, daß es nicht mehr zur Trinkwassergewinnung genutzt werden konnte. Also bohrte man sich in die tieferen Schichten an sauberes Grundwasser heran. Wie vorherzusehen war, sickerte das verschmutzte Wasser von oben nach, und der Dreck schwimmt jetzt ganz weit unten, wo ihm kaum beizukommen ist. Und „Grundwasser hat ein langes Gedächtnis“, sagt Meiners.
Dem setzt man, zumindest in Münster, eine rasche Auffassungsgabe entgegen. Am Ende des Sanierungsplanes soll ein Gesamtkonzept fertig und wirksam sein: die umfassende Reparatur des Kanalsystems, eine dritte Reinigungsstufe in der Kläranlage, die Phosphor und Stickstoff ausschaltet, sowie eine verschärfte Abwasserverordnung. Orientierte sich die Abwassergebühr bisher an der Menge des bezogenen Frischwassers, so wird sie in Zukunft am tatsächlichen Schmutzanfall des jeweiligen Verbrauchers ausgerichtet sein.
„Die Bürger werden sagen, so etwas passiere nur bei einer Behörde“, sagte Harry Scheibe, der Betriebsleiter der Stadtentwässerung, „erst wird der Radweg repariert, und jetzt reißen wir das wieder auf und machen da eine große Baustelle. Aber das hat sich hier keiner gewünscht oder ausgesucht, daß hier die Wasserleitung platzt.“
Was würden die Leute erst sagen, wenn sie von den weiteren Plänen Kenntnis hätten: Nach der Routine wird saniert. Das Rohr, das jetzt geflickt wird, steht auf der Abschußliste: Es ist zu alt und liegt außerdem „zu flach“. Wenn sie auch sonst nichts stoppen kann - die angepeilte Lösung wird Hunderttausende von Autofahrern in Form abermals gebuddelter Löcher zum Hindernis werden. Denn: Eine ganz neue Leitung muß verlegt werden. Die Pflege und Erhaltung des Kanalnetzes sei eben ein „Thema ohne Ende“, heißt es dazu im Tiefbauamt lakonisch.
Für Heinrich Schwippe hat das Problem am Hansaring zumindest ein vorläufiges Ende. Seit 18 Jahren ist er Profi im Geschäft mit den Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur. Damit die da oben ihre Nase weiterhin weg vom Dreck tragen können, sorgt er jeden Tag achteinhalb Stunden mit für den ordnungsgemäßen Ablauf der Fäkalienphysik. Stimmt schon, kaum einer beschäftigt sich gerne mit dem, was da unten ist: „Ich habe immer versucht, da mal Leute mit reinzunehmen - aber die glauben mir immer so, was ich denen sage.“ Auf naserümpfende Reaktionen auf seinen Beruf hat er allerdings „keine Lust“. In seinem Bekanntenkreis weiß man, was seine Arbeit wert ist.
Jetzt wird die erforderliche Technik herangeschafft, um den Einstieg in den Untergrund genau plazieren zu können. Ab morgen kann dann passieren, was will, denn morgen hat Meister Schwippe Urlaub. Während er in Sardinien weilt, wird man sich dieserorts weiterhin Gedanken machen, wie das alles mit dem Abwasser zu regeln sei. Anderswo könnten Leute möglicherweise auf den Gedanken kommen, daß es im Untergrund überhaupt Probleme gibt. Es handelt sich, so wird man ihnen erklären müssen, um eine ökologische Zeitbombe. Und die tickt.
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