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„Reformen in unserem Land sind dringend notwendig“

Synode des DDR-Kirchenbundes fordert politische Rechte und wirtschaftliche Reformen  ■ D O K U M E N T A T I O N

Die Synode des Evangelischen Kirchenbundes in der DDR hat zum Abschluß ihrer Tagung in Eisenach am Dienstag einen umfangreichen Beschluß gefaßt, in dem sie die gegenwärtige Lage in der DDR charakterisiert und Forderungen für die zukünftige Entwicklung formuliert. In dem Beschlußtext heißt es wörtlich:

„Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hat den Bericht des Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen und den Arbeitsbericht des Sekretariats des Bundes mit Dank entgegengenommen. Ausdrücklich dankt die Synode der Konferenz für ihren Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates, in dem zu bedrängenden Problemen unseres Landes Stellung genommen wird.

Auch von der Synode des Bundes wird erwartet, daß sie sich dazu äußert:

Die Massenauswanderung von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen, daß offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen in unserem Land und für unser Land keine Zukunft mehr sehen. In der Synode wurden vielfältige Erfahrungen genannt:

-erwartete und längst überfällige Reformen werden offiziell als unnötig erklärt;

-die Mitverantwortung des einzelnen Bürgers und seine kritische Einflußnahme sind nicht ernsthaft gefragt;

-den Bürgern zustehende Rechte werden vielfach lediglich als Gnadenerweise gewährt;

-hier geweckte und von außen genährte Wohlstandserwartungen können nicht befriedigt werden;

-ökonomische und ökologische Mißstände erschweren zunehmend das Leben;

-Alltagserfahrungen und die Berichterstattung der Medien klaffen weit auseinander;

-eine offene Aussprache über Ursachen der Krisenerscheinungen wird nicht zugelassen;

-Hinweise auf offensichtliche Wahlfälschungen bleiben ohne Reaktionen;

-offizielle Äußerungen zu Vorgängen in China und Rumänien wecken Befürchtungen und Ängste für die Zukunft;

-gewaltlose Demonstrationen junger Menschen werden gewaltsam unterdrückt, Beteiligte werden zu Unrecht und überdies unangemessen bestraft;

-Freizügigkeit im Reiseverkehr wird nicht gewährt.

Aus diesen und anderen Gründen sind viele Hoffnungen auf Veränderung in der DDR erloschen.

Die Folgen der Abwanderung betreffen alle in diesem Land: Familien und Freundschaften werden zerrissen, alte Menschen fühlen sich im Stich gelassen, Kranke verlieren ihre Pfleger und Ärzte, Arbeitskollektive werden dezimiert, haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und überschritten, die Folgen für die Volkswirtschaft sind unübersehbar. Auch Kirchengemeinden werden kleiner.

Das politische Klima der Entspannung ist bedroht.

Feindbilder leben wieder auf, Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten belasten die Nachbarn, besonders Ungarn, gewachsene Beziehungen und Gespräche werden abgebrochen. Der Ost-West-Konflikt in seiner deutsch-deutschen Zuspitzung verdrängt Zukunftsaufgaben und bindet Kräfte, die zur Gewinnung von Frieden und Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung dringend gebraucht werden. Angesichts dieser Situation haben wir im Bund der Evangelischen Kirchen Anlaß, uns selbst zu fragen, wie wir unserem Auftrag gerecht geworden sind. (...)

Unser Glaube gibt uns Grund, nach Wegen zu suchen, die heute und morgen gegangen werden können. Wir wissen uns von Gott in unsere Zeit und an unseren Ort gestellt. Vierzig Jahre DDR sind auch ein Lernweg unserer Kirchen, Christsein in einem sozialistischen Staat zu bewähren. Wir sehen uns heute vor die Herausforderung gestellt, Bewährtes zu erhalten und neue Wege in eine gerechtere und partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Wir wollen mithelfen, daß Menschen auch in unserem Land gerne leben. Wir möchten sie dazu ermutigen. So bitten wir sie, hier zu leben und einen Beitrag für eine gute gemeinsame Zukunft in unserem Land zu leisten. Wir können und dürfen aber nicht alle Probleme gleichzeitig lösen wollen.

Wir brauchen:

-ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß Reformen in unserem Land dringend notwendig sind;

-die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen;

-jeden für die verantwortliche Mitarbeit in unserer Gesellschaft;

-unbedingte Wahrhaftigkeit als Voraussetzung für eine Atmosphäre des Vertrauens;

-verantwortliche pluralistische Medienpolitik;

-demokratische Parteienvielfalt;

-Reisefreiheit für alle Bürger!

-wirtschaftliche Reformen;

-verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum;

-Möglichkeit friedlicher Demonstrationen;

-ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht. (...)“

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