: Nach einer Atombombe „ist da alles tot“
Frankfurter Landgericht klärt im fünften Jahr, ob Soldaten „potentielle Mörder“ sind / Nato-General Hüttel: Atomwaffeneinsatz „legal und legitim“ / Friedensforscher Ehmbohm: Soldaten sind „Maschinen des Massenmords“ ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Der General verliert sich in seiner Gestik. Er stützt beide Ellenbogen fest auf die Tischplatte, reckt die Hände nach oben und ballt sie in Kopfhöhe zu Fäusten. Generalleutnant Rolf Hüttel hat einen schweren Stand als Sachverständiger vor dem Frankfurter Landgericht. Stunde um Stunde befragt der Vorsitzende Richter, Heinrich Gehrke, ihn nach seinem Selbstverständnis als Soldat.
Dies ist das dritte Gerichtsverfahren in derselben Sache. „Alle Soldaten sind potentielle Mörder“, hatte der Mediziner Peter Augst am 31. August 1984 während einer Podiumsdiskussion in der Frankfurter Friedrich-Ebert-Schule gesagt. Rund hundert Schüler hatten es gehört. Gerichtet waren dieser und drei ähnliche Vorwürfe an einen der Diskussionsteilnehmer, den Jugendoffizier der Bundeswehr, Hauptmann Witt. Witt fühlte sich getroffen und erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung. Er tritt im Gerichtssaal als Nebenkläger auf. Das Amtsgericht verurteilte Augst zu 10.500 Mark Geldstrafe, das Landgericht sprach ihn frei. Bundeswehr und Bundesinnenministerium bemühten die nächste Instanz. Das Oberlandesgericht hob das Urteil auf und verwies an die 29. Strafkammer des Landgerichts zurück.
Richter Gehrke will es auch am dritten Verhandlungstag sehr genau wissen. Was heißt Krieg heute in Mitteleuropa? Der General aus dem Nato-Hauptquartier in Brüssel referiert zum wiederholten Mal die Strategie der atomaren Abschreckung als Garantie des Friedens. Der Frage, was ein solcher Krieg für die einzelnen, Soldaten und Zivilisten, bedeutet, weicht er immer wieder aus. Die Bundeswehr, und da appelliert der General an den Glauben des Gerichts wie des potentiellen Feindes, sei, ebenso wie die Nato, ausschließlich ein Instrument der Verteidigung. Der Wille dazu aber müsse überzeugend sein: „Der Soldat muß kämpfen können, wenn er es denn muß, um letztlich nicht kämpfen zu müssen.“ Das höre sich vielleicht paradox an, sei aber logisch, „wenn man die gedankliche Schleife mal gemacht hat“. Auch der Ersteinsatz von Atomwaffen diene der schnellen Beendigung eines Angriffs, nämlich dazu, den Feind zur Besinnung zu bringen. Alles streng nach den Völkerrechtsbestimmungen: „Dieser Einsatz ist legal, dieser Einsatz ist legitim.“
Richter Gehrke wedelt gegen Ende des Verhandlungstages mit dem in diesem Verfahren vielstrapazierten Völkerrecht und wird maliziös. „Zum Grinsen“ und antiquiert findet er die Texte, die er in Vorbereitung des Prozesses gelesen hat, jedenfalls einem Atomkrieg nicht gewachsen. Irgendwann greift der Anwalt der Nebenklage in das Verfahren ein und wählt Worte, die der General versteht: „Wie sieht es aus, wenn die Bombe gefallen ist?“ Hüttel: „Das ist doch klar, daß dort alles tot ist!“ Und dann? „Dann wird das Gebiet zum Schachbrett.“
Welche Größenordnung der Vernichtung von Zivilisten nimmt die Nato billigend in Kauf, fragt das Gericht mit Blick darauf, daß bei der Schulveranstaltung der Film „Logik des Schreckens“ gezeigt worden war, bei dem der osthessische Ort Hattenbach zum Einschlagziel östlicher und westlicher Atomraketen wird. Auf diese Frage mag der General nicht antworten. Sie unterliege der Geheimhaltung.
Eine der beiden beisitzenden Richterinnen fragt, wie er mit dieser Konsequenz denn als Christ leben könne? Hüttel: „Ich bin Soldat. Wenn ich zwangsläufig töten müßte, dann würde ich schuldig - wie sicher in vielen anderen Lebenssituationen auch. Als Christ würde ich auf Gnade hoffen.“ Das sei in einem konventionellen nicht anders als in einem nuklearen Krieg, daher scheine ihm diese Unterscheidung immer „etwas künstlich“. Das Gericht wundert sich.
Es hatte am Vormittag auch den Vortrag des Sachverständigen Erich Ehmbohm gehört. Der Ex-Hauptmann der Bundeswehr referierte als Sachverständiger des Starnberger Instituts für Friedens- und Konfliktforschung. Er differenzierte den Soldaten als „potentiellen Mörder“ dahin, daß er eher „potentieller Totschläger“ oder „Henker“ sein müsse. „Die ethische Besonderheit“ dieses Metiers bestehe darin, „fremdes Leben vernichten zu müssen“. Ehmbohm: „Bei technischem Fortschritt und friedenspolitischer Stagnation sind Soldaten zu Maschinen des Massenmordes geworden.“
Ehmbohm, der als Hauptmann mit Vorgesetzten über sein Widerstandsrecht beim Einsatz von Atomwaffen diskutierte, bekam gesagt, ein solcher Befehl werde dann „notfalls mit der Pistole“ durchgesetzt. Widerstandsrecht gebe es in der Bundeswehr, hatte Hüttel immer wieder betont, aber im Kriegsfall könne eben „nicht jeder Kanonier Fragen an den Bundeskanzler stellen“.
Ehmbohm problematisierte auch den Krieg mit konventionellen Waffen „in einer hochindustrialisierten Umwelt“, in der alle Lebensbereiche verflochten seien, und prognostizierte ein „Euro-Verdun“. Er habe zuvor nur den Einsatz atomarer Waffen verurteilt, sei aber nach „zwei Jahren Forschung“ gänzlich zum Pazifisten geworden.
Ehmbohm malte in Kenntnis technischer Mängel innerhalb der Nato ein Inferno, in dem defekte Tiefflieger auf Chemie -Fabriken und Atomkraftwerke stürzen, die Wasserversorgung zusammenbricht und ein nuklearer Winter die gesamte Zivilbevölkerung vernichten könnte.
Die Verhandlung wird am kommenden Montag fortgesetzt.
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