: Gorbatschow steckt Grenzen ab
■ Gegen Föderalisierung der KPdSU / Kategorische Absage an „nationalistische und chauvinistische“ Bestrebungen / Warnungen an die Balten-Staaten, Aserbaidschan und Armenien / Wohlwollen für Krimtataren und Wolgadeutsche / Indessen Ausschreitungen in Usbekistan
Moskau (afp/ap/dpa) - Auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees der sowjetischen KP ließ Generalsekretär Michail Gorbatschow gestern keine Zweifel aufkommen, daß die Zentrale in Moskau weitere Loslösungsbestrebungen einzelner Republiken nicht hinnehmen wird. Auch den Forderungen einzelner Republiken nach neuen Grenzen und der Schaffung veränderter Verwaltungseinheiten erteilte er eine deutliche Abfuhr. Die mehrfach verschobene ZK-Sitzung befaßt sich in erster Linie mit dem Nationalitätenkonflikt des Vielvölkerstaates. Neben der Diskussion der aktuellen Konflikte soll das Plenum auch über eine Plattform zur Nationalitätenfrage entscheiden, die die Weichen für weitergehende wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit der einzelnen Unionsrepubliken stellen sollte.
Während Gorbatschow jegliche „Föderalisierung“ der KPdSU
ausschloß, wurde in Litauen am Mittwoch der Programmentwurf für eine künftig unabhängige Kommunistische Partei
veröffentlicht. Der Generalsekretär wies derlei Tendenzen
entschieden zurück: „Jeder, der diesen Weg einschlägt, lädt schwere Verantwortung vor Partei und Volk auf sich.“ Die
Einheit der Partei in Programm und Statut sei unantastbar, betonte er. Die Presse Litauens betonte dagegen schon
gestern, es handle sich bei der Föderalisierung der KP nicht um eine „Spaltung der sowjetischen Kommunistischen Partei“, mit der die litauische KP über eine „Plattform gemeinsamer Ideen“ verbunden bleibe. „Wenn die litauische KP eine
politische Kraft im Prozeß zur Bildung einer Regierung nach unabhängigem litauischem Recht sein will, muß sie selbst
unabhängig sein“, lautet einer der Grundsätze, die die
regionalen Parteizeitungen abdruckten. In weiteren
Prinzipien heißt es dann aber, eine Plattform gemeinsamer
Ideen müsse die KPdSU und die Parteien einer jeden Republik einen; „die Unabhängigkeit der Aktion der litauischen KP“
dürfe mithin nicht „als eine Spaltung der KPdSU
interpretiert werden“. Weiter heißt es, „die künstlichen
Versuche, identische VorgehensFortsetzung Seite 2
weisen für alle Republiken zu finden, wirke im Endeffekt als Bremse für die Perestroika, die sich eben unterschiedlich entwickelt.
Schon in seiner Eröffnungsrede hatte Staatschef Gorbatschow mit Blick auf die Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern gewarnt, Moskau werde „mit der ganzen Kraft der sowjetischen Gesetze“ hart durchgreifen, sollte das Blutvergießen im Kaukasus kein Ende nehmen.
Trotz seiner kategorischen Zurückweisung der Verselbständigungstendenzen nannte Gorbatschow in
seinem Referat keine konkreten Vorschläge zum künftigen Status der in Aserbaidschan liegenden, mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Karabach, die seit Jahresbeginn direkt vom Kreml verwaltet wird.
Gorbatschow tadelte die Unterzeichnung von Verträgen, „die die leninistischen Prinzipien der Außenpolitk mit Füßen traten“. Gemeint war unzweifelhaft der Hitler-Stalin-Pakt, mit dem Moskau und Berlin 1939 Osteuropa in ihre Einflußzonen aufteilten. Auch die Rechte nationaler Minderheiten, wie der Wolgadeutschen und der Krimtataren, würden wiederhergestellt.
Eine größere Eigenständigkeit der Republiken solle vor allem erreicht werden über „weitreichende De
zentralisierung der Wirtschaft“ sowie die Pflege und Entwicklung der jeweiligen Nationalkultur, wobei die jeweiligen Sprachen als Amtssprachen gelten sollten, Russisch aber das Medium der transnationalen Kommunikation bleiben müsse.
Der traditionelle „Karneval der Völkerfreundschaft“ in der usbekischen Hauptstadt Taschkent hat am vergangenen Wochenende mit Ausschreitungen geendet, wie die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ am Mittwoch berichtete. 300 Teilnehmer seien randalierend durch die Hauptstadt der mittelasiatischen Sowjetrepublik gezogen. Insgesamt seien 21 Personen festgenommen worden. Sie seien bis Montag entweder wieder auf freien Fuß gesetzt worden oder ohne Gerichtsverfahren mit Verwaltungsstrafen
von 5 bis 15 Tagen Arrest belegt worden.
Laut der amtlichen Nachrichtenagentur 'Tass‘ begannen die Krawalle bei der „Feier zur Festigung der Freundschaft der Völker Usbekistans“ am Samstag in einem Park, weil Zuhörer eines Konzerts meinten, zu wenige usbekische Lieder zu hören.
„Auf dem Weg zur nahegelegenen Metrostation 'Völkerfreundschaft‘ wurden Autos mit Steinen beworfen und Fahrzeuge umgestürzt“, berichtete 'Tass‘ weiter.
Als 21 Teilnehmer der Ausschreitungen festgenommen wurden, habe die Menge eine Polizeistation belagert und ihre Freilassung verlangt. „Nur mit Mühe gelang es der Miliz, die Menge zum Abziehen zu bewegen“, hieß es bei 'Tass‘.
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