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„Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet die Zeit gegen uns“

DDR-Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler fordern in einer gemeinsamen Resolution den öffentlichen Dialog in ihrem Land  ■ D O K U M E N T A T I O N

Wir, die Unterzeichner dieses Schreibens, sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Staats- und Parteiführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. Es geht nicht um „Reformen, die den Sozialismus abschaffen“, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung gegenüber den existierenden Widersprüchen gefährdet ihn.

Wir begrüßen ausdrücklich, daß Bürger sich in basisdemokratisch organisierten Gruppen finden, um die Lösung der anstehenden Probleme in die eigene Hand zu nehmen; dieses Land braucht die millionenfache Aktivierung von Individualität; die alten Strukturen sind offenbar kaum in der Lage dazu. So haben wir den Aufruf des Neuen Forums zur Kenntnis genommen und finden in dem Text vieles, was wir selber denken und noch mehr, was der Diskussion und des Austausches wert ist. Wir halten es für überfällig, alte Feindschaften abzubauen und zu überwinden. Es ist nun wichtig, daß der politische Wille großer Teile der interessierten Bevölkerung eine positive Entsprechung „von oben“ findet. Das heißt auch, Anerkennung dieser Gruppen, ihre Tolerierung und Einbeziehung in das Gespräch und in die Gestaltung dieser Gesellschaft, wie es die Verfassung der DDR mit ihren Bestimmungen gebietet. Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheit sind.

Das Anwachsen rechtsextremer und konservativ-nationaler Elemente auch bei uns, das Beliefern gesamtdeutscher Anschauung ist ein Ergebnis fehlenden Reagierens auf angestaute Widersprüche und historisch unverarbeitete Tatsachen. Linke Kräfte fallen dieser Politik des Festhaltens erneut zum Opfer. Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme. Wir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände. Wir wolen uns den vorhandenen Widersprüchen stellen, weil nur durch ihre Lösung und nicht durch ihre Bagatellisierung ein Ausweg aus dieser Krise möglich sein wird.

Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns.

Berlin, 18.9.89

Gerhard Schöne, Andre Herzberg („Pankow“), H.E. Wenzel, Jörn Brumme, Joachim Gersdorff, Charly Eitner, Ernst Lembke, Reiner Navrath, Ingo Griese, Jürgen Ehle („Pankow“), Gerhard Laartz, Carsten Muttschall, Toni Krahl („City“), Martin Schreier, Tamara Danz („City“), Frank Schöbel, Markus Lönnig, Rüdiger Barton, H.H. Junck, Gerd Sonntag, H.J. Reznicek („Silly“), Uwe Haßbecker („Silly“), Jürgen Abel, Lutz Kerschowski, Jürgen Eger, R. Kirchmann, Angelika Weiz, Conny Bauer, Thomas Hergert, Tina Powileit, Wolfgang Fiedler, Kurt Demmler, Beate Bienert, Jenz Schlutz, Lothar Kramer, Christian Liebig, Matthias Lauschus, Bernd Römer („Karat“), Tine Römer, Dietmar Halbhuber, Norbert Bischoff, Ralf Zimmermann, Heiko Lehmann, Ines Krautwurst, u.a.

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