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SCHLESIEN PAUSCHAL

■ Mit westdeutschen Heimattouristen in die Volksrepublik Polen

Alles hängt davon ab, was wir für einen Piloten kriegen ... wenn das einer aus dem Riesengebirge ist, der sich in der Gegend auskennt, ist alles möglich. Wenn es aber jemand aus Warschau ist, dann geht gar nichts“, sagt der Busfahrer.

Wir sagen erst mal gar nichts.

Vor uns, im Osten, steht ein leuchtend roter runder Mond am Himmel, als wir an einem warmen Sommerabend Richtung Polen fahren. Wir, das sind ein Dutzend sogenannter Heimattouristen, unterwegs nach Schlesien, den Spuren der eigenen Erinnerung oder der der Eltern folgend.

Ob unser Pilot aus Warschau komme, was ausgesprochenes Pech sei, so setzt der Busfahrer seine Einweisung über Mikrofon fort, würden wir daran merken, ob er gleich nach der Grenze zusteige oder uns erst vor Ort im Hotel in Empfang nehme.

Wir bleiben weiter stumm.

Im Halbschlaf dämmern wir der Grenze entgegen. Unserem Schicksal, wenn es uns denn wirklich dort schon erwarten sollte, ergeben.

„Ach du Schreck“, entfährt es dem Busfahrer denn auch prompt, kaum daß der Bus morgens um sechs über die Grenze nach Polen hineingerollt ist. Denn da steht es, unser Schicksal: in Cordhosen und Pullover, mit Brille und Schnauzbart, ziemlich schmächtig, ziemlich jung und vor allem ziemlich müde. Unser polnischer Reiseleiter, unser Pilot. Er kommt, wie wir schnell feststellen, beileibe nicht aus Warschau, sondern genau daher, wo wir als erstes hinwollen: aus Jelenia Gora, aus Hirschberg also, mitten aus dem Riesengebirge.

„Nein, wieso, wie kommen sie darauf?“ amüsiert er sich über unsere Vermutungen, er sei aus Warschau angereist.

Wir fahren über schmale, von Bäumen gesäumte Landstraßen, durch kleine Städte, in denen so früh am Morgen noch kein Mensch zu sehen ist. In den Dörfern blühen Rosen, Phlox und Margeriten hinter verwitterten Holzzäunen, hier und da scharren schon Hühner im Sand.

Jemand macht Einkaufspläne für den Vormittag in Hirschberg. Die Geschäfte seien heute leider geschlossen, bemerkt der Pilot; in Polen sei Feiertag. Nationalfeiertag.

Der Busfahrer nimmt das Stichwort auf. Mit dem polnischen Nationalfeiertag habe er so seine Probleme.

„Also ich gestehe, ich fahre ja an diesem Tag nur ungern in eine Stadt rein. Ich habe das nämlich erlebt, daß mal 20 Polen um meinen Bus gestanden sind und drauf und dran waren, mir die Scheiben einzuschlagen.“

Ich schlucke. Auch von den anderen sagt niemand ein Wort.

„Und“, fährt der Busfahrer fort, „da konnte selbst der Pilot nichts anderes tun als um Hilfe rufen. Zum Glück kam gerade die Miliz vorbei, die hat uns dann gerettet.“

„Aber so was möchte ich nicht noch mal erleben“, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu.

Und nach einer weiteren, etwas längeren und daher um so wirkungsvolleren Pause erfahren wir beiläufig, daß das alles schon fünfzehn oder mehr Jahre zurückliegt. Lediglich auf einer seiner ersten Fahrten nach Polen habe er um seine Scheiben fürchten müssen. Damals seien Heimattouristen noch nicht so gern gesehen gewesen, aber heute sei das sicher alles anders.

Der kurze Aufenthalt in Hirschberg verläuft denn auch unspektakulär. Auch über die sechs Tage, die wir bei Halbpension in einem Kurort am Fuß des Gebirges verbringen, läßt sich nicht viel berichten. Abgesehen vielleicht davon, daß der Reiseveranstalter in der Ausschreibung und auch auf Anfrage unterschiedliche Zielorte genannt hatte und sich eine Hälfte der Heimattouristen jetzt fehl am Platz fühlt.

In seiner Funktion als Veranstalter der Reise hat der Busfahrer An- und Abreisedatum festgelegt, das Gruppenvisum ausstellen lassen und das Hotel gebucht. Laut Reiseunterlagen ist die Abreise für acht Uhr Freitag morgen geplant; für Donnerstag sieht das Programm einen letzten Ausflug in die Umgebung vor.

Beim Frühstück am Donnerstag kommt Unruhe auf. Das Hotel sei nur bis heute morgen gebucht gewesen, heißt es, wir müßten heute noch abreisen. Busfahrer und Pilot sind verschwunden, offensichtlich zwecks Klärung der Angelegenheit mit dem Hoteldirektor. Wie für den geplanten Ausflug verabredet, steigen wir schon mal in den Bus.

Dann kommen Busfahrer und Pilot zurück.

„Schlagt mal eure Pässe mit dem Visum auf“, fordert uns der Fahrer auf.

Wir kramen die Reisepässe hervor. Für sechs Tage gilt das Visum, steht da, wenn auch auf polnisch.

„Tja“, sagt der Busfahrer und blickt bedeutungsvoll in die Runde, „heute ist aber schon der sechste Tag.“

Visum und damit verbunden die Hotelbuchung sind exakt einen Tag kürzer berechnet und ausgestellt als An- und Abreisedatum erfordern. Bis Mitternacht müssen wir die Grenze passiert haben. „Sonst kommen wir nicht mehr rüber“, warnt der Busfahrer.

Ungläubiges Gemurmel breitet sich aus. „Jetzt werden wir noch mal vertrieben“, sagt einer der Reisenden lakonisch.

Angela Ulbrich

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