: Herbst der Parteien
Der französische Soziologe Alain Touraine zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft ■ E S S A Y
Die Öffentlichkeit wendet sich ab von den Parteien und fühlt sich von ihnen nicht mehr repräsentiert - das zeigen Untersuchungen in Japan und den Vereinigten Staaten, Kanada und Frankreich. Ist die politische Klasse inkompetent, gleichgültig gegenüber ihrer Bevölkerung, gar korrupt? Diese Erklärung mag in manchen Fällen zutreffen, allerdings nicht in Frankreich, wo die Skandale selten und begrenzt sind, wo die Kompetenz und Seriosität der wichtigsten Politiker kaum zu bestreiten und die Bürgermeister populär sind - und unter ihnen finden sich alle wesentlichen Figuren der nationalen politischen Szene.
Die Repräsentationskrise ist nicht aus Fehlern der Gewählten zu erklären, sondern aus einem tiefgreifenden sozialen Wandel, der zu einer immer größeren Distanz zwischen Wählern und Gewählten und zuletzt zu einem Abbruch ihrer Beziehungen führt.
Einerseits werden die Gewählten immer mehr von einem Staat dominiert, der gezwungen ist, das Land gleichsam wie ein Unternehmen zu managen und äußeren Zwängen - vor allem dem der internationalen technologischen und kommerziellen Konkurrenz - Vorrang einzuräumen. Das Gesetz wird nicht mehr vom Parlament gemacht: Gesetzesprojekte von Seiten der Regierung lassen parlamentarischen Gesetzesinitiativen praktisch keinen Raum mehr, vor allem aber wird Sozialpolitik immer enger mit wirtschaftlichen Analysen und Projekten verknüpft.
Welcher ernsthafte Politiker würde heute noch eine Politik gegen die Arbeitslosigkeit vorschlagen, die nicht mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und also einer Wachstumspolitik verbunden wäre? Gewerkschaftliche Lobbys, die hoffen, sich durch Störung der Arbeit in ihren Unternehmen oder Behörden, Lohnsteigerungen zu erkämpfen, tragen höchstens künstliche Siege davon und verschlechtern ihre Lage nur.
Andererseits betreffen die drängendsten Fragen gar nicht mehr den sozioprofessionellen Bereich und seine politische Klientel. Ob es um die Umwelt geht oder um Drogen, die Lage der Frauen oder der Einwanderer, die Autounfälle oder die Krisen der Städte, Krankenhäuser und Schulen: Der Appell an den Staat reicht immer weniger aus, öffentliche Kampagnen zielen immer mehr auf eine Änderung in der persönlichen und gesellschaftlichen Einstellung ab, und nicht mehr so sehr auf Gesetzesänderungen. Daher die Wichtigkeit der Presse, der „Weisenräte“ und der Initiativen nicht regierungsgebundener Organisationen. * * *
Diese beiden Beobachtungen ergänzen sich: Sie zeigen, daß Staat und Gesellschaft sich nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sondern Rücken an Rücken. Der Staat blickt auf die Weltwirtschaft, während die Gesellschaft immer „ziviler“ wird und sich vom Staat zusehends unabhängig macht. Gesellschaft und Staat treten auseinander: Erstere wendet sich der Ethik zu, letztere dem internationalen Markt. Welches ist, zwischen diesen Polen, die Rolle der Politik, und genauer, die der Politiker?
Lange, zu lange herrschte in Frankreich die Ansicht, daß das gesellschaftliche Leben in der bloßen Verteidigung von Partikularinteressen bestehe, während einzig die politischen Parteien das Interesse der Allgemeinheit - zugleich das der Nation und das der benachteiligten Mehrheit - im Blick hätten. Diese Idee ist nur solange richtig, wie sie daran erinnert, daß die Macht der Reichen und Einflußreichen durch das Gesetz begrenzt werden muß; sie ist falsch, sofern sie den Sinn politischer Aktion von den gesellschaftlichen Akteuren auf die politischen verlagern will und das eigentlich politische Thema der Republik gegenüber dem sozialen der Demokratie bevorzugt.
Sie ist sogar gefährlich, sofern sie die gesellschaftlichen Akteure dem Staat einverleibt - genau hierdurch definiert sich der Korporatismus unserer mehr oder weniger sozialdemokratischen Gesellschaften, und genau dieses Denken führt zu den furchtbaren Abwegen der kommunistischen Regime. Heute spielen die Parteien und Politiker nicht mehr die Rolle einer Avantgarde, sondern die von Vermittlern zwischen immer autonomeren gesellschaftlichen Akteuren und einem Staat, der notgedrungen immer öfter eingreift. Vor der Unterordnung der gesellschaftlichen Akteure unter den Staat durch die Parteien schreckt die öffentliche Meinung zurecht zurück.
Dadurch wird die Politik der Linken unmittelbarer in Frage gestellt als die der Rechten. Diese beruht auf der Allianz zwischen den Wirtschaftskapitänen und dem Staat, was die anderen gesellschaftlichen Akteure dazu führt, allein auf sich zu zählen - so zeigt es die Geschichte der Arbeiterbewegung. Die französische Linke hingegen hat mehr auf die staatliche Intervention als auf die Entwicklung der sozialen Bewegungen gesetzt. Die Linksparteien waren in Frankreich stets mächtiger als die Gewerkschaften und Verbände, und diese Tendenz wird eher stärker. In der Öffentlichkeit provoziert das einen Widerwillen gegen Politik und eine Suche nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten, von der die Medien und Verbände, Vereine und Initiativen profitieren.
Die Parteimitglieder reiben sich auf im Kampf um die Kontrolle der Parteien über das soziale Leben. Zumal die kommunistische Partei führt nach wie vor viele Verbände an, aber die soziale Wirklichkeit ist längst ganz woandershin verschwunden. Daher die deutliche Unterstützung der Öffentlichkeit für den Präsidenten der Republik und seinen Premierminister, die den Staat anführen, die dem Gesetz Achtung verschaffen und die öffentlichen Freiheiten schützen; und daher das geringe Interesse für eine politische Klasse, die sich ihres übermäßigen Ehrgeizes nur zögernd bewußt wird.
Mit welchem Recht erteilen die Politiker sowohl den einen als auch den anderen Lektionen - sowohl den Staatsmännern, die an der Wiederbelebung der Wirtschaft arbeiten, als auch den gesellschaftlichen Akteuren, die Problemen wie der Integration der Einwanderer, der Gesundheit, der Einsamkeit in den Städten usw. den Vorrang geben, für die die politische Klasse kaum Analysen und Lösungsvorschläge bereithält? Das Parlament ist nicht länger der Mittelpunkt, wo die großen gesellschaftlichen Probleme sichtbar werden und die verschiedenen Strömungen der öffentlichen Meinung ihren Ursprung haben. Die Gewählten befinden sich heute gegenüber den Wählern in der Nachhut.
Die öffentliche Meinung wird in dem Maße, wie materielles Elend, Unbildung und Vereinzelung zurückgehen, reflektierter und selbständiger - zumindest in den demokratischen Ländern. Als die „Volksmassen“ nicht zu Wort kamen, sprachen Intellektuelle für sie; als die Arbeiter nur durch Entbehrungen und Proletarisierung definiert waren, griffen politische Avantgarden in ihrem Namen ein. Heute haben die intellektuellen und politischen Mittelsmänner einen kleineren Handlungsspielraum, und darüber muß man froh sein, denn Intellektuelle und Parteichefs waren oft mehr Anstifter zur Revolution als Baumeister der Demokratie.
Die Parteien, die unsere gesellschaftliche Bühne allzulange dominiert haben, müssen endlich in ihre eigentliche Rolle zurückfinden und zu den unerläßlichen Bausteinen einer politischen Demokratie werden, die auf die Forderungen und Initiativen der gesellschaftlichen Akteure eingeht und zuallerst auf die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit angesichts eines von heiklen internationalen Wirtschafts und Militärkonfrontationen immer stärker beanspruchten Staats. Der Niedergang der Parteien stärkt die Demokratie in den Ländern, wo sie bereits existiert, genauso wie sie in Polen und Ungarn und bald auch in anderen Ländern durch den Niedergang der Ein-Parteien-Regime ihre Renaissance erlebte.
Gewiß, es gibt keine Demokratie ohne Parteien, aber es gibt auch keine, wenn die Wähler nur als Klientel dienen, die von den politischen Unternehmen von Zeit zu Zeit mobilisiert wird. Am wichtigsten ist heute ein größerer Handlungsspielraum für unsere Gesellschaft, die von viel zu vielen Seiten bevormundet wird.
Aus: 'Le Monde‘ vom 15.9.89
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