: Denken mit Besonnenheit
Adam Michnik, einer der führenden Intellektuellen von Solidarnosc und Sejm-Abgeordneter, über Polen und die deutsche Frage ■ D O K U M E N T A T I O N
Das Freitagsprogramm des sowjetischen Fernsehens „Wzgliad“ brachte ein Gespräch mit einem lettischen Deputierten, der mit einfachen und klaren Worten die Erklärung des ZK der KPdSU über die Lage in den baltischen Republiken einer radikalen Kritik unterzog. Die offene Polemik in bisher als Tabus betrachteten Bereichen empfinde ich als eine der positivsten Veränderungen, die zur Zeit in der Sowjetunion stattfinden. Nur auf diesem Weg kann sich neues Denken, das der Lage angemessen ist, bilden. Das ist zumindest kein mechanischer Prozeß. Das Mitglied des Politbüros und zugleich Sekretär des ZK der PVAP Leszek Miller hat sich bei einem Treffen mit dem Parteiaktiv von Skierniewice über internationale Angelegenheiten geäußert. Er sagte: „Professor Geremek hat erklärt, er sei für eine Wiedervereinigung Deutschlands - so zumindest klang es in 'Bild am Sonntag‘. So eine Ansicht aus dem Mund eines einflußreichen Politikers Polens muß empören. Die deutsche Wiedervereinigung würde zu einer wesentlichen Störung des Gleichgewichts in Europa führen. Die Politiker von Solidarnosc ergreifen manchmal sehr unbedacht das Wort in internationalen Angelegenheiten. Sie unterstützten zum Beispiel unkritisch bestimmte Bewegungen in den baltischen Republiken und der Ukraine, als wüßten sie nicht, daß deren nationalistische Spitze nicht nur gegen die Russen, sondern auch die Polen gerichtet ist. In diesen Fragen muß man sich mit mehr Besonnenheit äußern.“
Die Forderung, sich mit mehr Bedacht zu äußern, ist mit Sicherheit richtig. Zuerst aber muß man die Fakten kennen. Professor Geremek erklärte in 'Bild am Sonntag‘: Frage: „Soll Deutschland wieder vereinigt werden. Oder fürchten Sie sich davor?“ Antwort: „Ich gehöre einem Volk an, das viele Jahre lang geteilt und eines eigenen Staats beraubt war. Ich bin der Ansicht, die Deutschen sollten sich wiedervereinigen. Aber das ist vor allem die Sache der Deutschen selbst. Ich denke, ein freies Europa bringt auch eine Lösung der deutschen Frage. Es muß allerdings sichergestellt werden, daß ein vereinigtes Deutschland keine Bedrohung für irgendein anderes Land darstellt. Aber ich finde vor allem, daß die Deutschen ein Recht auf Wiedervereinigung haben.“
Eben: ein Recht auf Wiedervereinigung. Professor Geremek hat ganz richtig gesagt, daß die Gestalt des deutschen Staates von den Deutschen abhängt und von der Lage in Europa. Aber es ist nicht nur ein moralischer Imperativ, sondern auch ein Erfordernis der polnischen Staatsräson, den Deutschen das Recht auf das zuzugestehen, was wir selbst wollen - einen Staat. Schließlich wirft die abnormale Lage des deutschen Volkes einen Schatten auf die Gesamtheit der deutsch-polnischen Beziehungen. Wenn wir in diesen Beziehungen einen Umbruch erzielen wollen, dann müssen die Deutschen das Bewußtsein bekommen, daß die Polen an der Existenz der stalinistischen Ordnung in der DDR kein Interesse haben. Mehr noch: daß die Destabilisierung der DDR im polnischen nationalen Interesse liegt.
Ich weiß nicht, was Leszek Miller gedacht hat, als er von „unkritischem Unterstützen“ nationaler Bewegungen in den baltischen Republiken und der Ukraine sprach. Entweder man versteht die Komplexität des nationalen Erwachens der sowjetischen Republiken oder man ist besser etwas zurückhaltender mit seinen Ansichten. Ich war in der Ukraine und habe am Treffen der „Bewegung“ teilgenommen. Ich habe dort etwas vollkommen anderes gehört als Leszek Miller frei nach den 'Prawda'-Journalisten - sagte. Das ukrainische Volk kehrt nach Jahren des Terrors und der Gefangenschaft in ein freies Leben zurück. Dieses große Nachbarvolk ist von den Knien aufgestanden. Das ergibt eine neue Lage: die erfordert einen polnisch-ukrainischen Dialog und nicht das Wiederholen Breschnewscher Formeln über „ukrainischen Nationalismus“.
Ähnlich können auch polnisch-littauische Probleme nur durch einen entsprechenden Dialog gelöst werden. Das ist kein Ausdruck einer antirussischen Option, sondern einer antitotalitären Option. Ich habe schon öfter hier geschrieben, daß die Moskauer Impulse eines demokratischen Umbaus für uns Polen eine grundsätzliche und positive Bedeutung haben. Eine aufmerksame Reaktion auf die Prozesse des nationalen Erwachens in Litauen und der Ukraine ist eine positive Antwort auf diese Impulse.
Über dem Denken von Leszek Miller schweben die Ära Breschnew und die Kategorien der Breschnew-Doktrin. Leszek Miller glaubt an die Unantastbarkeit einer gewissen, von Stalin und Breschnew mit Gewalt aufrechterhaltenen Ordnung. Aber die weitere Aufrechterhaltung benötigt heute eine Vervielfachung der Gewalt. Nur so kann man das stalinistische Klima in der DDR und der CSSR aufrechterhalten, nur so kann man Litauen und die Ukraine in einen Zustand der Friedhofsruhe zurückversetzen. Diese Gewalt wäre aber das Ende der demokratischen Reformen in unseren Ländern.
In Moskau überlegt man heute, wie man auf eine neue Art die Beziehungen zwischen den Völkern im Rahmen einer Föderation gestalten kann. Wir müssen von neuem unsere Beziehungen zu allen unseren Nachbarn überdenken.
Wir brauchen ein Denken, das frei ist von pro-russischer Servilität wie auch von nationalistischer Engstirnigkeit. Nur das Verständnis dafür, daß sich die Welt schon verändert hat, verdient die Bezeichnung „Denken mit Besonnenheit“.
Aus 'Gazeta Wyborcza‘, Tageszeitung des Bürgerkomitees Solidarnosc
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