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Wie realistisch ist Deutschlands Wiedervereinigung?

Von Wladimir Simonow, politischer Kommentator der Presseagentur 'Nowosti‘  ■ D O K U M E N T A T I O N

Eines Tages wird man sie in ein Museum für abstrakte Kunst stellen können. Ich meine die Mauer, die Berlin zweiteilt. Ihre nach Westen gewandte Fläche ist ein Vexierbild aus Graffiti, allen denkbaren und undenkbaren Symbolen, Werbung für amerikanische Musicals, schriftliche Liebeserklärungen und seelischen Aufschreien.

Heute allerdings schreit die Mauer immer öfter nach etwas anderem, nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu einem Vaterland.

Das neu erwachte Interesse an dem alten Thema erklärt sich aus dem Problem der DDR-Flüchtlinge, die über die seit dem 11. September geöffnete ungarisch-österreichische Grenze in die Bundesrepublik Deutschland strömen. Die Bürger der Sowjetunion wissen davon, einige Bilder wurden im Fernsehen gezeigt. Aber angesichts unschöner Situationen kommt unsere junge Glasnost noch immer ins Stolpern. Andere Meldungen geben zu verstehen, der Flüchtlingsstrom sei einzig und allein von einer aus der Bundesrepublik gelenkten Kampagne mit TV-Sendungen, Flugblättern und provokatorischen „Paneuropäischen Picknicks“ ausgelöst worden.

Die Bundesrepublik hat genügend politische Kräfte und Massenmedien, die dem östlichen Nachbarn kurz vor seinem 40. Geburtstag gern die Stimmung verderben möchten. Es ärgert sie, daß der sozialistische deutsche Staat energisch auf positive Veränderungen in Europa hinarbeitet und zum Beispiel seine Kontakte zur Bundesrepublik und Westberlin ausbaut. Das Flüchtlingsproblem, genügend aufgeblasen, könnte diesen Prozeß sehr wohl hintertreiben.

Doch mit der Schlagzeile Die Provokateure geben keine Ruhe lassen sich nicht alle unerwünschten Erscheinungen erklären. Unter den Bürgern der DDR, die sich nun in bayerischen Aufnahmelagern sammeln, sind nicht wenige Flüchtlinge aus Überzeugung. Den einen paßt die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR nicht. Andere wiederum lockt die Wohlstandsstatistik, die besagt, daß das Durchschnittseinkommen einer bundesdeutschen Familie doppelt so hoch ist wie in der DDR, daß auf je 100.000 Familien ebenfalls doppelt so viele Autos entfallen, daß es 13mal mehr Telefone gibt und ein Drittel mehr mit Sanitäranlagen ausgestattete Häuser.

Und dann sind da überhaupt sonderbare Käuze. Sie besaßen in der DDR Häuser mit Toiletten und Autos und Telefon, aber sie haben das alles dem Staat hinterlassen und sich, einen Rucksack auf den Schultern, ins Nachbarland begeben. Man sagt, sie hätten auf manches zu lange gewartet, an manches nicht mehr geglaubt...

Genau so naiv wäre es, daß jetzige Interesse am Problem der Wiedervereinigung Deutschlands allein den Machenschaften revanchistischer Kreise in der Bundesrepublik zuzuschreiben, die von einer Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 träumen. Millionen junge Bundesdeutsche wissen nicht, wo diese Grenzen überhaupt verliefen. Folgendes Phänomen aber haben Reisebüros in den letzten Jahren registriert: Immer mehr junge Bundesbürger reisen in die DDR, um zu sehen, wie ihre „Brüder und Schwestern“ leben.

„Wir wollen nicht von 'Wiedervereinigung‘ sprechen. Schon der Begriff beschwört den Schatten Bismarcks herauf und riecht nach Revbanchismus“, sagte mir kürzlich in Westberlin Klaus Bölling. „Doch das Interesse am Thema deutsche Einheit in der einen oder anderen Form ist zweifellos geweckt. Und wissen Sie, wodurch? Durch die gewandelten Ost-West -Beziehungen. Vor allem durch Gorbatschows Idee des 'gesamteuropäischen Hauses‘. Wenn schon die UdSSR und die USA ihre Kernraketen verschrotten und die EG und der RGW eine gemeinsame Erklärung herausgeben, dann entsteht bei uns träumerischen Deutschen natürlich der Gedanke: Warum eigentlich nicht? Andererseits stimme ich Ihrem Staatschef zu: Die Teilung Deutschlands ist geschichtlich bedingt, sie muß auch dem Urteil der Geschichte überlassen bleiben...“

Mit Bölling sprach ich in der Europäischen Akademie in Westberlin, die für eine Gruppe prominenter amerikanischer Journalisten ein Seminar zu dem bemerkenswerten Thema Berlin, das geteilte Deutschland und die USA veranstaltet hatte. Die Reaktion des Publikums war ebenso bemerkenswert. Kaum jemand wußte hier, daß die UdSSR noch 1948 die Errichtung eines einheitlichen, unabhängigen, demokratischen Deutschlands vorgeschlagen hatte und 1961 eine Konföderation zwischen der Bundesrepublik und der DDR unter Verwandlung Westberlins in eine freie, entmilitarisierte Stadt. Und nicht alle entsannnen sich auch, daß gerade der Westen die einzig mögliche Grundlage für eine Vereinigung Deutschlands - das Potsdamer Abkommen sabotiert hatte.

Für die meisten Seminarteilnehmer stand es freilich außer Zweifel, daß heute auf deutschem Boden zwei Staaten mit ihren eigenen Wertvorstellungen, ihrer Ideologie und ihrer politischen Kultur existieren. Nur ein wachsendes Vertrauen zwischen Ost und West, die Durchsetzung der Philosophie des Neuen Denkens statt der Reflexe der Konfrontation kann Breschen in die Mauern schlagen, die Europa trennen. Das endgültige Urteil über den Traum von der Einheit wird also wiederum sie, die Geschichte, fällen.

Propagandarummel um das Flüchtlingsproblem wird diesen Tag nicht näher bringen. Inzwischen dürfen wir zusammen mit dem französischen Romancier Fran?ois Mauriac verstehend lächeln: „Ich liebe Deutschland so sehr, daß es mich freut, daß es zwei davon gibt.“

aus: 'Moskau News‘ 10/ 89

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