: Moskaus Opponenten lernen sich kennen
Ein Stückchen Geschichte wurde geschrieben: Zum ersten Mal diskutierten Mitglieder der KPdSU und der oppositionellen „Demokratischen Union“ miteinander / Einig in der Analyse, uneinig im weiteren Vorgehen / „DS“ appelliert an „bürgerlichen Ungehorsam“ ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Im Kulturhaus des Moskauer Aviationsinstituts herrschte gespannte Erwartung. Hier geschah am Dienstag abend außerordentliches: Zum erstenmal in der jüngeren Geschichte der Sowjetunion hatte ein mutiges Grüppchen von Mitgliedern der KPdSU, nämlicher der „Moskauer Parteiclub“, eine Gruppe zur öffentlichen Diskussion geladen, die nicht nur den Anspruch stellt, ebenfalls als Partei aufzutreten, sondern über ein geradezu kriminelles Image in den sowjetischen Medien verfügt: die „Demokratische Union“.
Die „DS“ hat sich erst in diesem Jahr als Partei konstituiert. Als Prügelknabe der offiziellen sowjetischen Presse hat sie aber schon eine mehrjährige Tradition. Durch die Berichterstattung über die Bergarbeiterstreiks geisterte sie als permanenter Buhmann, dessen „Provokationen“ die Kumpel standhaft ablehnten.
Die „DS“ will verschiedene sozialdemokratische und neoliberale Strömungen in sich vereinigen. Nach eigenen Angaben haben sich ihr 2.000 Sympathisanten angerschlossen.
Der Koordinator des Moskauer Parteiklubs, Igor Tschubais, erklärte die Ziele der 100 KPdSU-Mitglieder, die sich im März dieses Jahres in der Stadt zusammengetan haben: „Aufruf zur Einheit aller Kommunisten, die gegen den Antifraktionsbeschluß der KPdSU sind, die den Kampf gegen die Privilegien gewisser Parteimitglieder ernsthaft aufnehmen wollen.“
In der Analyse der gegenwärtigen Lage der Sowjetunion waren sich beide Gruppen überraschend einig. Sollte die Situation im Lande noch „chaotischer“ werden, könne ein großer Teil der Bevölkerung selbst nach der „starken Hand“ rufen. Valerij Novodvorskaja, die gerade mal wieder 15 Tage abgesessen hat, eine ältere Dame vom Schlage „Miss Marples“ repräsentiert in einem Kleid mit leuchtendem Rosenmuster die „Demokratische Union“ sehr eindrucksvoll. Sie sprach für Pluralismus und Entideologisierung. In einem Mehrparteiensystem müsse selbstverständlich auch die KPdSU ihren Platz haben. „Und was soll nun unser Leben leiten? Weder Sozialismus noch Kommunismus - wir müssen einfach leben und danach streben, daß unser Leben in den menschlichen Beziehungen aufblüht.“
Daß dies in der Sowjetunion durch Wirtschaftsreformen nicht mehr zu erreichen sei, darüber waren sich auch die Ökonomieexperten einig. Über die Frage jedoch, wie ein Machtwechsel zu bewerkstelligen sei, schieden sich die Geister. „Nur der bürgerliche Ungehorsam kann uns noch vor dem Bürgerkrieg retten“, rief Frau Novodvorskaja. Ihr Argument: „Wenn wir die Pseudoinstitutionen unseres Staates als demokratische anerkennen, dann gleichen wir einem Menschen, der sich mit einem Regenschirm vor radioaktiver Strahlung schützen will.“
Tschubais hielt dagegen: „Das Wesen dieses Systems ist die Partei, und ohne Transformation der KPdSU kann man überhaupt nichts ausrichten.“ Wie also handeln? „Wir sind uns auch darüber einig, daß in dieser Partei keine Einheit besteht. Die Stalinisten in ihr haben sich zusammengeschlossen, die Zentristen werden dies demnächst tun. Wir rufen alle Demokraten in ihren Reihen auf, sich uns anzuschließen. Wenn sich diese Idee durchsetzen kann und von außen her unterstützt wird, dann können wir im Laufe der Zeit zu einer Aufteilung der KPdSU in mehrere Einzelparteien gelangen.“ Ohne Druck von außen ließe sich, so Tschubais, nichts ändern. Daher begrüße er auch die Existenz der „DS“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen