Die Union und ihr Akzent

■ Unions-Deutschlandpolitiker sehen Wiedervereinigung als Prozeß / Kein Gegensatz zwischen Streibl und Waigel?

Berlin (taz) - Wenn Dogmatiker in ihren Antworten unsicher werden, dann sagen sie gewöhnlich, es sei ein „Prozeß“ drüben wie hüben. Das gilt auch für die christdemokratischen Wiedervereinigungsdogmatiker. Erst am Ende eines „Prozesses“ könne eine Wiedervereinigung stehen, der zunächst zu mehr Freiheit und zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes in der DDR führen soll, erklärte der deutschlandpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Eduard Lintner. Diese Akzentpolitik in der Deutschlandpolitik ist das Ergebnis einer internen Beratung, an der am Dienstag abend alle entscheidenden Deutschlandpolitiker teilnahmen. Lintner zufolge soll die Bundesregierung aufgefordert werden, den westlichen Alliierten die „Ernsthaftigkeit des Anliegens eines Selbstbestimmungsrechtes“ in Erinnerung zu rufen und sie auf ihre Verpflichtungen aus dem Deutschlandvertrag hinzuweisen.

CDU- und CSU-Sprecher mühten sich gestern beträchtlich, die Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten Streibl zu entdramatisieren. Streibl hatte jene „Akzentverschiebung“ vorweggenommen und den inneren Reformen der DDR unter Beibehaltung ihrer Selbständigkeit den Vorrang gegenüber dem Wiedervereinigungsverlangen gegeben. Implizit hatte er die Wiedervereinigungsrhetorik gegenwärtig als schädlich für einen Reformprozß bezeichnet. „Jeder soll in seinem Block bleiben“, hatte Streibl erklärt. Staatskanzleisprecher Stelzer meinte, es sei „unsinnig“, einen Gegensatz zwischen Streibl und Waigel zu konstruieren. Waigel hatte zuvor in den USA davon gesprochen, die Wiedervereinigung sei aktueller denn je. CSU-Generalsekretär Huber betonte, die „Wiedervereinigung sei keineswegs auf Eis gelegt„; er vermied eine Stellungnahme zu Streibl. Aber da alles ein „Prozeß“ ist, kann eben Waigel am Ende und Streibl am Anfang des Prozesses stehen.

KH